Sonntag, 1. November 2009

Was taugt der Blog?

Hat dein Kind zufällig auch gerade eine frische Krebs-Diagnose bekommen, und du überlegst, ob du einen Blog schreiben sollst? Nach knapp zwei Jahren Erfahrung dazu ein paar Bemerkungen.
1. Es ist praktisch und für alle Bekannten auch komfortabel, dass sie nachlesen können, wann immer sie wollen, wie bei euch der Stand ist. Du kannst die Lektüre aber umgekehrt bei niemandem voraussetzen. Und deine Replik: "Dazu brauchst du nur den Blog zu lesen" mag niemand gerne hören. Im Grunde weißt du bei kaum jemandem vorher, welchen Kenntnisstand er hat. Selbst gute Freunde finden die zähe und oft eintönige Krankengeschichte irgendwann langweilig und lesen nur noch sporadisch (wichtiger Tipp: Fasse dich kurz!). Im direkten Gespräch gibts da nur ein Mittel: Du setzt immer voraus, dass dein Gegenüber nicht auf dem neuesten Stand ist, Doppelinfos verübelt niemand.
2. Du musst dich selbst dann noch, wenn dir das Thema zum Hals raus hängt, darum kümmern, das medizinische Geschehen zu verstehen, vor allem dann, wenn du von Zellen und von Stoffwechsel zum letzten Mal in der Schule gehört hast. Und wenn du glaubst, du hast verstanden, was die Ärztin gesagt hat, heißt das noch lange nicht, dass du daraus drei Sätze geradeaus schreibst, ohne großen Bockmist zu verzapfen. Da musst du dauernd nachfragen oder wenigstens bei Wikipedia nachlesen, um die Wörter nicht falsch zu schreiben. Nur wenige sind in der glücklichen Lage, einen krebsforschenden Nachbarn zu haben, der ab und zu ein paar Zusammenhänge erläutert. Perspektivlos ist das für dich trotzdem, denn ohne Physikum hast du keine Chance, jemals das Niveau von schlechtem Wissenschaftsjournalismus zu verlassen.
3. Die wirklich harten Themen sind tabu: kein Wort über Drogen, Sex, Job und Geld. Wenn du erst mal auf 2780 Zugriffe im Monat gekommen bist, musst du dir darüber im Klaren sein, dass das vielleicht nicht mehr alles nur Freunde sind. Da können auch Leute dabei sein, die deine Verwundbarkeit ausnutzen wollen oder die dich zumindest sehr kritisch betrachten. Umgekehrt schaffst du dir im Blog einen „Interpretationsspielraum“, kannst die Lage etwas manipulieren. Aber das Kaschieren klappt nicht ewig, und irgendwann verlierst du Glaubwürdigkeit.
4. Du darfst niemanden angreifen, selbst wenn du genau dazu manchmal richtig Lust hast. Feindschaften kannst du nicht gebrauchen. Nicht jeder findet es cool, im Zusammenhang mit einer Unglücksfamilie lebenslang im Internet zu stehen. Also am besten gar keine Namensnennungen. Und auch keine Fotos mit Namen.
5. Du freust dich natürlich darauf, dass dein Blog mit Party, Luftballons und einem strahlenden Kind endet. Aber mach dir nichts vor, du erhöhst die Überlebenschance des Balgs mit der Schreiberei kein Stück. Am Schluss können auch die Friedhofsblumen stehen. Und wenn es zuende geht, ist es doppelt schlimm. Du musst dann weiterschreiben, auch wenn dir die Laune komplett vergangen ist und du nur noch deine Ruhe haben willst.
Trotzdem ist der Blog für deine Situation eine wunderbare Erfindung. Er sorgt wirklich dafür, dass jeder sich nach Interesse informieren oder dies lassen kann, und er verhindert, dass alle deine Brüder und Großtanten je dreimal die Woche anrufen.
Solltest du ein schriftlicher Typ sein, dann sei versichert, dass die Schreiberei für dich auch eine massiv entlastende Funktion gewinnt. Wenn das Schlimme erst mal in Buchstaben gepackt ist, verliert es den Schrecken des Unbekannten. Der definierte und beschriebene Feind ist leichter zu packen als ein vage dräuendes Schicksal.

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