Mein lieber Vetter Stephan,
du hast mich schon so lange ich denken kann, Vetter Roland genannt. Ich habe das damals nicht so richtig verstanden - war ich doch eigentlich als kleiner Junge gar nicht dick. Später hast du mir erklärt, dass das ein alter deutscher Begriff für unsere Verwandschaftsbeziehung sei - und das habe ich dann auch akzeptiert. Ich war auch froh, nicht als Mädchen zur Welt gekommen zu sein, denn eine "Base" hätte ich nun wirklich nicht sein wollen. Schön ist ja auch, dass wir uns gegenseitig so nennen konnten, das fühlte sich fast so an wie ein Geheimbund - Cousins hat ja schließlich fast jeder. In deinem Freundeskreis war mir dann auch immer eine etwas besondere Aufmerksamkeit sicher - häufig wurde ich mit "Also du bist Vetter Roland?" begrüßt.
Heute bin ich sicher, dass diese Wortwahl schon früh deine Leidenschaft für die deutsche Sprache gezeigt hat. Auch später hast du meinen Wortschatz immer wieder bereichert, z.B um das schöne alte Wort "präpotent", das du vermutlich von Heidi in Innsbruck aufgeschnappt hast, weil man es in Österreich noch heute gern benutzt.
In der Zeit, als es noch die DDR gab, habe ich mich immer sehr auf die Osterferien und runde Geburts- oder Hochzeitstage unserer Großeltern Thiele in der Leopoldstraße 70 in Köthen gefreut. Denn das verhieß lieben Besuch aus Düsseldorf, dem fernen Westen. Du, deine Mutter Gisela und dein Vater Hanns, der mit zwei "n" geschrieben wird, weshalb ich einmal in einem Deutschdiktat in der vierten Klasse einen Fehler angestrichen bekam und der mir vor allem mit seiner eckigen und schwer lesbaren Druckbuchstabenschrift in Erinnerung geblieben ist. Mit der Schrift bist du deinem Vater übrigens auch immer ähnlicher geworden… Deine Mutter Gisela schien mir bei euerer Ankunft immer sehr aufgeregt; sie wollte ganz schnell zur Polizei, denn ihr musstet euch ja beim ABV (das war der sogenannte Abschnittsbevollmächtigte der DDR-Polizei) anmelden. Mir erschien das etwas übertrieben, aber die Furcht, beim nächsten Mal aus nichtigen Gründen nicht in die DDR einreisen zu dürfen war sicher ganz konkret und begründet - und Ordnung musste sein!
Dass du einmal Historiker sein würdest, hat sich schon früh gezeigt, obwohl mir das damals nicht klar war. Als kleiner Junge habe ich gern deinen Vorschlag aufgenommen, und Holzschwerter in Opa Thieles Werkstatt gebastelt. Bei Holzschwertern sollte es auch nicht bleiben. In tagelanger Arbeit - Holzleisten und Metallstreifen zersägen, feilen und zurechthämmern, Leder zuschneiden und aufnageln - kamen noch Helm und Schild dazu. Und fertig waren zwei römische Legionäre. Naja, 1 1/2 - ich habe nur ein halbwegs solides Schwert hinbekommen. Auf deinem Schild prangte die römische Zahl XI - für die 11. Legion
Claudia Pia Fidelis („pflichtbewusst und treu“). Die Römer hatten es dir jedenfalls angetan und sie sollten dich auch niemals mehr loslassen.
Mit dem dritten Vetter im Bunde, meinem Bruder Michael, war dann auch eine Skatrunde komplett. Wobei ich zugeben muss, dass ich anfangs noch kein gefragter Mitspieler war - und manchmal eifersüchtig auf euch "Große". Skat, das du früh von Deinem Vater gelernt hast und das du tage- und nächtelang mit deinen Klassenkameraden in der Schule und im Schullandheim gespielt hast, konntest du am besten von uns allen. Ich habe oft versucht, alle Trümpfe und die gewonnenen Punkte mitzuzählen, was mir selten, dir aber immer gelang.
Michael war es auch, der schon immer deine Leidenschaft für Fussball geteilt hat - stundenlang konntet ihr die neuesten Ergebnisse diskutieren. Das hast du sicher auch mit deinem besten Schulfreund Thomas; deine Mutter Gisela erzählte bei einem Besuch mit heimlichen Stolz von einem Transparent, das ihr in der gediegenen Hans-Sachs-Str. in Düsseldorf aufgespannt habt, als Fortuna Düsseldorf sensationell den
Pokal gewonnen hatte und das natürlich die gewollte Aufmerksamkeit erzielte - und umgehend wegen Störung der öffentlichen Ordnung entfernt werden musste.

Mit deiner Wahl, Alte Geschichte zu studieren, hast du deinen Traum, die alten Römer ganz genau kennen zu lernen, erfüllen können. Ich habe eigentlich nicht so recht verstanden, wie man Latein, Altgriechisch und Hebräisch lernen könnte, aber bewundert hab ich das schon, da es Geheimnisse offenbaren konnte, die mir verschlossen bleiben sollten. Die Erfahrungen, die wir beim Holzschwerterbau in Köthen gemacht haben, bewährten sich dann beim Ausbau der Dachkammer in Heidis Haus in Innsbruck. Einmal mehr zeigte sich hier deine gewisse Nachlässigkeit in Kleidungsdingen. Für dich ging in T-Shirt, Jeans und Latschen einfach alles - selbst unsere Besteigung des 2334m hohen Hafelekar bei Starkregen. Dank Heidi wenigstens mit Regenjacke…
Unsere Erfahrungen beim Legionärsspiel hast du dann vielleicht auch in deiner Promotion "
Feindbilder bei den frühen Griechen" einbringen können, die du dann in Berlin geschrieben hast. Dein Umzug nach Berlin passte mir sehr gut, da wir uns in Berlin nun wesentlich häufiger sahen, allerlei Parties feierten und gegenseitig unseren Freundeskreis verbinden konnten. In deiner Berliner WG habe ich auch das erste Mal deine legendären Mohnpielen kosten dürfen - ein hochkalorisches Gemisch aus alten Semmeln, Mohn und Sahne, das manchmal deine Hauptnahrung vor Prüfungen war und doch nicht dick gemacht hat.
Gern gekocht hast du schon immer und Kinder mochtest du auch sehr - so warst du häufig bei Alexander und Mei-Lin ein gern gesehener Gast und hast deinem Patensohn Hsing-Hsing beiseite gestanden, wenn wieder mal die Hertha verloren hat oder der Hausegen schief hing.

In Amerika warst du genau wie ich immer sehr gern - so auch auf unserer Reise von der Ost- an die Westküste in meinem 76'er Oldsmobile V8. Das wolltest du in der Wüste von Texas unbedingt mal ausfahren, woraufhin uns ein Texanisch sprechender State Trooper mit einer Hand auf der Pistole nach der Prüfung unserer komischen Führerscheine unerwartet freundlich darauf hinwies, dass in Texas nur 65 mph erlaubt sei und er es diesmal bei einer Verwarnung beließe, weil wir ja aus dem fernen Deutschland kämen. Puh, das war knapp und du hast ziemlich bedröppelt dreingeschaut. Die Abenteuerlust war dir jedoch nicht vergangen und nach der Begehung des Grand Canyon - natürlich in Jeans und ohne die von den Rangern dringend empfohlenen 4l Wasser - musstest du die nächste Grenzüberschreitung schon bald in Angriff nehmen. Du klautest in San Francisco in einer Kneipe unsere beiden Biergläser, von denen eines im Haushalt Schmal bis heute überlebt hat.

Leider war dann der Arbeitsmarkt für promovierte Althistoriker in Deutschland nicht so rosig, so dass du dich an deine Mama hieltest und wie sie ordentlicher Buchhändler wurdest - vermutlich der erste Dr. phil. in der Buchhändlerlehre beim Olms-Verlag in Hildesheim. Was für ein Glück deine Wahl in mehrfacher Hinsicht sein würde, sollte sich schon bald zeigen.
Das erste und weitaus größte Glück erschien alsbald im Olms-Verlag in Gestalt einer sehr attraktiven Studentin der Kulturpädagogik. Ich bin mir nicht sicher, wann es bei euch "klick" gemacht hat, aber mir war eigentlich von Anfang an klar, dass ihr zusammen gehört. Wann findet schon ein Stephan eine Stefanie und eine Lenger einen Schmal - und noch dazu gleichzeitig? Nebenher hast du deinen
Sallust geschrieben - wann war denn nur Zeit dafür? Wahrscheinlich, wenn du nicht gerade für den nächsten Marathon trainiert hast.
Das zweite Glück war nach erfolgreichem Abschluss der Lehre der Einstieg in das Berufsleben - und der lag ganz in der Familientradition. Der Vater Lehrer, die Mutter Buchhändlerin, was lag also näher, als Bücher zu machen? Und zwar Schulbücher - Geschichtsbücher um genau zu sein, was auch sonst? Im schönen fränkischen Bamberg, dem Drehort der Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann, bezogt ihr bald eine Villa am Hügel mit Blick über die Stadt. Hier feierten wir eure Hochzeit und die Geburt eurer ersten Tochter Stella Antonia.
Sehr lange habt ihr es in der fränkischen Provinz nicht ausgehalten und seid nach Hannover gezogen, immerhin eine Hauptstadt mit wunderbarem Zoo, dessen Hauptattraktion für Stella und die bald folgende Clara Carlotta der Kinderspielplatz mit Riesentrampolin und Streichelzoo war. Bevor die Kinder früh morgens am Bett standen und die Decke wegzogen, bist du schon mal an den Schreibtisch gegangen, um das zweite Buch, den
Tacitus zu schreiben. Von Hannover ging es dann auch bald schon weiter nach Braunschweig - diesmal in ein großes Haus mit Garten, in dem man wunderbar spielen und Pflanzen groß ziehen konnte. Die Familie wuchs und gedieh und bald gehörten auch Rooney und Greta Madita dazu.
In Leipzig gab es dann für dich die nächste Herausforderung beim Schulbuchverlag Klett. Mir war das ganz recht, denn Leipzig liegt auf dem Weg nach Berlin. Leider hielt das Glück diesmal nicht sehr lange an, denn Greta wurde krank. Diese Geschichte hast du selbst in Gretas Blog aufgeschrieben und bist in dieser schweren Zeit immer weniger zu deinem dritten Buch, dem Livius gekommen.
Einen großen Freundeskreis hattest du schon immer, was kein Wunder war, da sich fast jeder in deiner Gesellschaft wohl fühlen konnte. Mit deinem sympathischen Wesen, deinem Wortwitz, manchmal trockenen Humor und klugen Geschichten hast du uns oft zum Lachen und immer für dich einnehmen können.
Das hat sich besonders in deiner und Gretas oft schweren Zeit der Krankheiten gezeigt, wenn Freunde von nah und fern zu euch hielten, euch besuchten, Krankenwache übernahmen, Kuchen oder einen Riesentopf Suppe vorbei brachten, einfach mal klingelten, um die neuesten Geschichten aus Verlag und der Welt zu erzählen oder eine Runde Skat zu spielen.
Du erinnerst dich sicher an den Abzählreim für die Skatkarten, den dir Onkel Hans Surke beigebracht hat, und den ich dann von dir gelernt habe:
Ein
Vo-
gel
saß
auf
ei-
nem
Baum.
Es
re-
gne-
te
und
er
ward
nass.
Da
kam
der
lie-
be
Son-
nen-
schein.
Es
müs-
sen
zwei
und
drei-
?
?
So ein Mist! Es fehlen zwei.