Sonntag, 28. Februar 2010

Warme Winde

Mittwoch und Donnerstag haben sie bei Greta MIBG-Szintigraphie gemacht, jene Diagnose mithilfe eines Hormons, das sich in den Krebszellen anlagert und das für dieses Verfahren einen radioaktiven Stoff Huckepack nimmt, den man dann abfotografieren kann. Steffi behauptete am Donnerstag, sie hätte deutlich weniger Leuchtpünktchen gesehen als beim letzten Mal im Oktober. Ich glaube ja nicht, dass der Laie das sieht. Wir könnten damit zufrieden sein, wenn sich die alten Krebsnester nicht weiter verändert haben. Sollten sie tatsächlich signifikant geschrumpft sein, dann hieße das wohl, dass die Intensivchemo im Zuge der KMT auch gegen die Neuroblastomreste noch Wirkung getan hat. Vielleicht hieße das sogar, dass das neue Immunsystem Möglichkeiten der Krebsbekämpfung hat, die Gretas Leukozyten zuvor nicht zur Verfügung standen. Das wäre ein echter Big Point, sagt mir mein Laienverstand. Aber die amtlichen Ergebnisse stehen noch aus.
Baustelle bleibt die Ernährung, die der einzig verbliebene Grund dafür ist, dass Greta im Prinzip noch stationär behandelt wird. Die Ärzte legen uns jetzt die PEG nahe. Das heißt Perkutane Endoskopische Gastrostomie und bedeutet, dass dem Kind über einen langen Zeitraum per Sonde durch die Bauchhaut Nahrung zugeführt würde. Das wäre besser als die iv-Ernährung, die auf Dauer die Leber schädigt. Außerdem ist Greta mit dem Gewicht an der Untergrenze und hätte einer schweren Infektion nicht mehr viel entgegenzusetzen, sagen die Ärzte. Dafür ist sie allerdings erstaunlich munter.
Wir wollen noch nicht so ganz glauben, dass wir es nicht mit normaler Ernährung schaffen. Schokoküsse, Nutella mit dem Löffel, Erdnussbutter creamy, Sahne-Shakes, Malzbier, Cola, ... Wie kriegt man bloß Kalorien in das Kind hinein? Hat jemand eine Idee? Wir kaufen zur Not auch ein Waffeleisen.
Das Wochenende war erfreulich ereignisreich und brachte zwei schöne Familienausflüge zu fünft mit sich, wie wir sie Monate lang nicht genießen konnten.
Gestern Vormittag war ich mit Stella zum Tag der Offenen Tür im Schiller-Gymnasium, nur vier Tram-Stationen von uns entfernt. Stella dachte erst, Schiller sei ein Komponist, aber das wurde zum Glück nicht abgefragt. Die Schule ist nicht Elite, bietet aber Latein an und hat ein wundervolles Türmchen, dessen Bau der Gründungsdirektor vor hundert Jahren durchgesetzt hat, weil er ein Hobby-Astronom war. Stella hat es dort sehr gut gefallen.
Der Frost hat schwere Wunden im Asphalt hinterlassen, und wir haben einen Reifen kaputtgefahren. Unsere Werkstatt musste ziemlich lange bei den Großhändlern herumtelefonieren, denn Ende Februar will kein Mensch mehr Winterreifen haben. Im Moment ist es warm und windig, fast Föhn-Wetter. Das Frühjahr kann kommen.

Wohnungsnot



Ich dachte erst, es sei ein Scherz, als ich Mittwoch nachhause kam und über einen großen Sack stolperte, der auf den ersten Blick aussah wie ein Zebra. Als der Sack mir dann zur Begrüßung die Pfoten auf die Schultern legte und mich anfauchte, wusste ich es besser. Wir haben einen neuen Mitbewohner.
Die Geschichte ist einfach. Unser umtriebiger Zoodirektor braucht Platz für sein neues Gondwana-Land und will Tiere der nördlichen Hemisphäre loswerden. Da er aber nicht wieder zum Buhmann der Stadt werden will, lässt er diesmal die streichel-baren Tiere nicht erschießen, sondern an Schulen versteigern. Steffi, Stella, Clara und Greta haben den sibirischen Schneetiger also auf dem Schulhof der Lessing-Schule ersteigert. Es gab fünf Bieter. Ich fürchte, es wird ein hoher dreistelliger Betrag abgebucht werden, Steffi redet nicht gerne über diese Dinge. Sie hat zuvor im Krankenhaus gefragt, und drei von fünf behandeln-den Ärztinnen haben es nicht verboten, dass Greta wieder mit einer Katze im Haushalt zusammenlebt, sagt Steffi.
Der Tiger heißt Pogrebniak. Das ist Russisch. Ich weiß nicht, ob das sein Vor- oder Nachname ist, aber bei Tigern ist das ja nicht so wichtig. Genau genommen ist Pogrebniak ein sibirischer Zwergtiger, hat Herr Junold auf dem Schulhof erklärt, dessen Längenmaß auch im ausgewachsenen Zustand 3,20 m bis Schwanzspitze nicht überschreiten wird. Deshalb darf er nach dem internationalen Artenschutzabkommen von Woodstock in Stadtwohnungen gehalten werden. Es reicht, sagt Herr Junold, wenn wir drei- bis fünfmal am Tag mit Pogrebniak im Rosental Gassi gehen.
Dennoch können wir ein langfristiges infrastrukturelles Problem nun nicht mehr leugnen. Erstens: Der Tiger braucht ein eigenes Zimmer mit abschließbarer Tür. Zweitens: Wir werden wahrscheinlich fünf menschliche Personen bleiben und müssen also auch für Greta ein Zimmer dauerhaft einplanen. Drittens: Zwischen Stella und Clara schwelt schon jetzt ein Zickenkrieg um das gemeinsame Zimmer. Clara wich zuletzt regelmäßig auf das weinrote Sofa im Mehrzweckzimmer aus, das jetzt auch Pogrebniak mit Beschlag belegt. Ursprünglich war das Papas Lieblingsplatz, und Papa kriegt schlechte Laune, wenn er abends am Küchentisch lesen muss. Viertens: Clara hat das Klavierspielen entdeckt, aber das ist eine andere Geschichte.
Was ich sagen wollte: Wer eine schöne kleine preiswerte 200-qm-Wohnung im Waldstraßenviertel kennt, die bald frei wird, der möge sich bei uns melden.

Sonntag, 21. Februar 2010

Was hat das alles mit mir zu tun?

Die letzte Nacht hat Greta wieder zuhause verbracht, aber vorläufig bleibt das noch die wochenendliche Ausnahme. Im Normalfall fährt Steffi sie abends in die Klinik, bleibt bis zum Einschlafen bei ihr und holt sie am nächsten Tag nach diversen Anwendungen gegen Mittag nachhause. Für Steffi ist das schon eine klare Verbesserung der Situation, für mich allerdings noch mehr, weil die Betreuungswochenenden in der Klinik, die mein Part waren, ersatzlos wegfallen. Trotzdem freuen wir uns natürlich auf die richtige Entlassung, der nach wie vor die Ernährungssituation und ein nachts iv-verabreichtes Antibiotikum entgegenstehen.
Am Dienstag kamen Stella und Clara sehr belebt aus der Geschwisterfreizeit im Harz. Dort haben sie Bergwerke besichtigt und viel Spaß gehabt. Witze haben sie sich auch erzählt. Neues Format: „Deine Mudder“, politisch überhaupt nicht korrekt und ungefähr das, was bei uns die Ostfriesen waren. „Deine Mudder is so doof, die setzt sich auf den Fernseher und guckt Sofa.“ Oder: „Deine Mudder is so fett, wenn die sich im schwarzen Badeanzug an den Strand legt, kommt das Greenpeace-Schiff und zieht sie ins Meer.“ Ungefähr 50 von der Sorte haben sie beim ersten gemeinsamen Abendbrot zum Besten gegeben. Auch Ski gelaufen sind sie im Harz. Clara will jetzt eine eigene Ausrüstung haben, oh Graus! In Sachsen ist dieser Sport ziemlich populär. Ich dachte immer, die stehen hier mehr auf Schießen, Speerwerfen und Gewichtheben.
Wenigstens die Kinder führen wieder ein halbwegs normales soziales Leben. Greta war am Dienstag „bei ihrer Freundin Lea“ in der Nachbarschaft. Alleine, zwei Stunden lang. Ich kann nicht wirklich erklären, wie diese Freundschaft entstanden ist in den letzten zwei Jahren, jedenfalls war Greta dort. Das Wochenende war ebenfalls angefüllt mit Kinderbesuchen einschließlich Übernachtung. Sonntag Mittag freilich saßen vier Kinder maulend und aufeinander schimpfend in vier verschiedenen Zimmern. Auch das gehört dazu. Danach war Greta ziemlich müde, hat lange geruht und mochte nicht laufen. Nach der langen Pause wollte sie natürlich auch nicht in die Klinik zurück und haderte lautstark mit ihrem Schicksal.
Gestern war es leicht vorfrühlingshaft. Auf dem Liviaplatz lugte bunter Silvestermüll aus den Schneeresten. Ich habe das Fahrrad aus dem Keller geholt und es mit Greta geputzt und eingefettet. Danach bin ich wie ein kleiner Junge zu Weihnachten mit dem blinkenden Rad eine Runde um den Block gefahren. Ohne Handschuhe. Heute flockt aber schon wieder dieses weiße Zeug vom Himmel.

Sonntag, 14. Februar 2010

Erste Nacht zuhause

Alles wird besser, außer das Wetter. Zum Glück interessie-ren uns gewisse Dinge einfach nicht, dazu gehören Karneval und Olympiade. Das beste an dieser Jahreszeit ist der Geburtstag meiner Frau, der sich gestern dadurch auszeichnete, dass Greta zum ersten Mal seit vier Monaten zuhause übernachten durfte. Täglichen Freigang hat sie ja schon seit anderthalb Wochen, am Mittwoch wurde die Darmsonde gezogen. Hoffentlich wird uns nicht langweilig bei so viel Normalität.
Die Rückenmarkspunktion am Dienstag ergab eine erneute Bestätigung von hundertprozentigem Chimärismus (also Umwandlung vom angestammten Blutbildungssystem in jenes vom Spender), was keineswegs selbstverständlich ist. Außerdem gibt’s keine Leukämiezellen und keine Neuroblastomzellen, alles prima soweit.
Ich hatte mein erstes freies Wochenende seit Menschengedenken - und prompt die erste Grippe seit der Kur im Juni. Das ist nicht tragisch, sondern typisch für solche Abschlaff-Phasen. Tut mir Leid, wenn der Post heute etwas flau ausfällt, ich brauche normalerweise mein Sonntags-Läufchen, um Ideen zu entwickeln.
Freitag bin ich zum zweiten Mal in der Straßenbahn kontrolliert worden. Die LVB kennt da kein Erbarmen und hat ihre Controllettis sogar am 11. Januar den Prügeln der Massen ausgesetzt, als der Straßenbahnverkehr winterbedingt komplett zusammengebrochen war und die Gäste nach teilweise mehrstündiger Verspätung nicht auch noch Fahrscheine zeigen mochten. Im Normalbetrieb gibt es schon wieder einen wichtigen Unterschied zu vermelden: Im Westen fischen die Trupps immer mindestens einen Schwarzfahrer aus jedem Waggon. In Leipzig habe ich bislang noch keiner einzigen Überführung beigewohnt. Was lehrt uns das? Die Leipziger Straßenbahngäste sind wohl-habender als im Westen und können sich die Tickets leisten. Die Straßenbahngäste im Osten sind obrigkeitstreuer als im Westen und trauen sich nicht, schwarz zu fahren. Die Kontrollen in Leipzig sind so engmaschig, dass Schwarzfahren einfach unrentabel ist. Wahrscheinlich lehrt uns das gar nichts.
Ich habe meine Agatha-Christie-Phase vorläufig beendet. Irgendwann hat man genug von alten Tanten, skrupellosen Hausärzten und gefälschten Testamenten. Stieg Larsson ist schon eine andere Nummer und hat den aktuellen Hype durchaus verdient.

Das Leben wird bunter

Die Lenger-Schmal-Lenger-Drillinge

Endlich wieder mit den Schwestern im Rosental

Greta füttert das südfriesische Zwerg-Yak.

Wohin geht die Reise?

Sonntag, 7. Februar 2010

Die härteste Zeit geschafft?

Seit Mittwoch befindet sich Greta in einer Art von offenem Vollzug. Sie bekommt täglich Hafturlaub und darf nachhause. Das gefällt ihr gut, und sie war gleich mächtig aufgedreht. Inzwischen kann sie herumkeifen und rennen. Fangen Spielen geht wieder, Hüpfen auf der Kellermatratze, das körperliche Repertoire ist ganz schnell wieder da. Schon erstaunlich, was der gestresste Körper leistet.
Sechzehn Wochen geschlossene Anstalt sind es nun geworden – wie gut, dass uns im September niemand gesagt hat, dass die intensive Behandlung erst Anfang Februar zuende gehen würde. Es ist doch wirklich gut, dass man nicht in die Zukunft schauen kann. Deshalb schauen wir gerade sehr optimistisch in die Zukunft.
Seit Freitag sind auch noch Schulferien. Es gibt selbst in Sachsen übermütige Menschen, die in Ski-Urlaub fahren oder ähnlich unvernünftige Dinge tun. Bei uns sorgen die Schwiegereltern zusätzlich dafür, dass die Lage gerade sehr entspannt ist. Wenn sich der Trend hält, werde ich nächstes Wochenende – Stella und Clara sind dann auf Geschwisterfreizeit – anfangen, wieder richtig zu telefonieren.
Stella hat eine Eins in Sport bekommen. Das muss mir mal einer erklären. Auf jeden Fall ist das prima. Wer immer mir jetzt einreden will, dass meine große Tochter zu dick sei, dem sage ich: Was willst du, Stella hat doch eine Eins in Sport! Hoffentlich kommt jetzt keine Sportmittelschule auf uns zu, die das Kind für ein Leistungszentrum für Kugelstoßer- oder Gewichtheber-nachwuchs keilen will. Ihr Zeugnis sieht knapp gymnasial aus, aber die Entscheidung ist noch nicht gefallen.
Neulich wurde ich zwei Stunden lang von einer aufgeweckten Sozialpädagogik-Diplomandin interviewt, die über Krebs-Väter handelt und deren Situation verbessern will. Bisher gibt es dazu anscheinend keine Studien. Breit untersucht sind die Befindlichkeiten von Krebskindern, Krebskindergeschwistern und Krebskindermamis. Die Väter werden meist gefragt: Und wie wird deine Frau mit der ganzen Belastung fertig? Möge die neue Studie nützen. Väter werden immer noch unterschätzt.