Sonntag, 27. September 2009

Keine Wahl

Greta war bis Mittwoch in der Klinik, ist aber jetzt in sehr stabilem Zustand. Die Infektion ist weg, die Blutwerte sind ziemlich gut, ihr Appetit deutlich verbessert. Diverse MRTs, Szintigraphien und anderes haben wenig neues ergeben, einige altbekannte Neuroblastom-Stellen reichern noch schwach an, Veränderungen sind nicht erkennbar.
Der Jena-Zeitplan steht, demnach werden Greta und Steffi am Mittwoch hinfahren, Donnerstag wird die Intensivchemo verabreicht. Damit wäre die Knochenmarkspende definitiv terminiert oder schon erfolgt. Ausdrücklich gesagt hat dies allerdings noch niemand.
Zu viel Optimismus ist nicht angebracht. Eine erfolgreiche Krebsbehandlung sieht so aus, dass das Kind nach einem Jahr heraus ist aus der Mühle. Wenn die Behandlung erst ins dritte Jahr geht, sterben die meisten, da darf man sich nichts vormachen. Der Tapfere Nick aus Stuttgart hat einen Rückfall bekommen. Ist frisch eingeschult worden und weiß nun gar nicht, ob ihm das ABC noch was nützen wird. Blog-Schreiben bringt für den Therapieerfolg jedenfalls gar nichts, das lernen wir daraus. Ebensowenig das voreilige Ansetzen von Genesungsfeiern, wie wir nun wissen. Habt ihr eigentlich alle mitbekommen, dass die Halloween-Party ausfällt? Es gab Rückfragen. Wir hatten die Feier sofort mit Ausbruch der Leukämie abgesagt und werden so bald auch keinen neuen Vorstoß unternehmen.
Stella kommt ab nächste Woche in die Schülerhilfe zum Mathe-Üben. Sie will nicht und hat unser karriereförderndes Ansinnen heute schon damit kommentiert, dass sie Bett und Schlafanzug überhaupt nicht verlassen hat. Ihre Gymnasialempfehlung ist inzwischen ungefähr so wahrscheinlich wie Gretas Überleben. In unserem Falle scheint die Reproduktion des Bildungsbürgertums einfach nicht zu funktionieren. Ich hab mir das alles anders vorgestellt, als ich Kinder in die Welt gesetzt habe.
Das Wetter lacht der Stimmung Hohn. Immerhin war Greta viel draußen die Tage, hat im Hof gespielt und ist Fahrrad gefahren. Vorhin waren wir auf dem Wellenspielplatz, während RetortenBillard nebenan die Lokomotive zerlegt hat. Gefreut hat sich niemand, Fans haben die noch nicht.

Sonntag, 20. September 2009

Auswärtssiege für Köln und Düsseldorf

Die Voruntersuchungen in Jena sind unspektakulär verlaufen, allerdings hat sich Greta irgend einen Infekt eingefangen (man hat in Jena gerade die Hygiene-Bestimmungen gelockert), der dafür gesorgt hat, dass sie gleich zur Beobachtung in die Leipziger Klinik überführt wurde. Inzwischen ist das Fieber aber wieder weg.
Da der Spender nach wie vor noch nicht angezapft werden konnte, hat sich der Aufnahmetermin für Jena nun auf den 30. September verschoben. Die Ärzte fangen an zu streiten, was kein gutes Zeichen ist. Für 24 Stunden galt die Ansage (aus Jena), dass man zur Sicherheit eine MIBG-Therapie einschieben müsse, was von den Leipzigern inzwischen wieder kassiert worden ist. Das ist alles nicht schlimm, nur etwas beunruhigend. Wenn sich der Spende-Termin erneut verschieben sollte, werden wir uns dafür einsetzen, dass der zweitbeste Spender favorisiert wird.
Es war ein ruhiger und konstruktiver Betreuungssonntag. Greta, noch wach, ließ mich ohne Protest schon um halb neun gehen. Roland, der zuhause eine Woche lang heldenhaft die Stellung gehalten und nebenbei unsere Computer umgekrempelt hatte, war noch einmal zu Besuch in der Klinik. Am Nachmittag gab es im Behandlungsraum Lehrstunde am Mikroskop und Nachhilfe in den Basics der Blutkunde. Greta will nun endgültig Ärztin werden, nachdem sie schon unzählige Tiere und Besucher versorgt hat.
Mittags hatten wir eine Stunde Ausgang, wanderten zum Apothekergarten, einer Ansammlung von botanischen Skurrilitäten, die schon Paracelsus hat anlegen lassen, als er 1520 in Leipzig den Lehrstuhl für experimentelle Pharmazie übernahm. Paracelsus war auch der erste, der entdeckte und wissenschaftlich beschrieb, dass Kastanien schwerer sind als Holz und untergehen, wenn man sie ins Wasser wirft. Wir konnten sein Experiment heute nachvollziehen, sie sinken wirklich. Demgegenüber werden Greta und ihr Anhang sicher noch eine Weile oben schwimmen.

Sonntag, 13. September 2009

Kreuz und quer durch Leipzig

Wir haben – oh Wunder! – ein Zweitfahrrad. Die liebe Tante hat es mitgebracht, die am Wochenende die Stellung gehalten hat. Die Kinder waren es sehr zufrieden, Stella konnte einige Mathe-Rückstände aufholen. Der Vater war Freitag/Samstag halbdienstlich in Leipzig unterwegs und konnte viel Neues über seine Stadt lernen. Wisst Ihr, woher die Wörter Lotterbett und verlottern kommen? Von Leipzigs Bürgermeister Hieronymus Lotter, der im 16. Jahrhundert vielfacher Bauherr war und bei Rathäusern und anderen Großbehausungen aus Kostengründen reichlich Schlampereien verantwortet und veranlasst hat. Oder kennt ihr den? Eine Reisegruppe von US-Amerikanern wird durch Leipzig geführt. „Dies ist der größte Bahnhof Europas“, sagt der Cicerone, darauf ein Ami: „Bei uns gibt es größere Bahnhöfe.“ Sie erreichen das Zentralstadion, und der Führer sagt: „Dies war einmal das Stadion mit dem größten Fassungsvermögen in Mitteleuropa“, darauf ein Gast: „Bei uns gibt es Stadien, da gehen mehr Leute hinein.“ Sie fahren auf das Völkerschlachtdenkmal zu. Schweigen. Sie stehen unmittelbar davor. Schweigen. Ein Ami fragt unsicher: „Was ist denn das?“ Sagt der Führer: „Tut mir Leid, weiß ich auch nicht, das stand gestern noch nicht da.“
Freitag-Nachmittag konnte ich eine wichtige Besorgung erledigen: meinen Vorrat an Erdnussbutter erneuern. Es gibt nämlich nur einen einzigen Supermarkt in Sachsen, der die Variante „crunchy“ führt, und das ist der REWE an der Gorki-Straße in Schönefeld. Einer dieser Läden, wo vorne der Schnaps unter Einkaufspreis feilgeboten wird, damit die Stammkundschaft treu bleibt. Wenn ich dort meine fünf Dosen Erdnussbutter aufs Band lege und nichts anderes dazu, gibt es selbst mit den spröden Einheimischen regelmäßig Flachsereien über einseitige Ernährung, phantasievolle Hautkuren oder hochschwangere Partnerinnen. Ob das für mich nur peanuts wären, fragte einer.
Greta ist gut gelaunt und ohne Beschwerden. Die Blutwerte steigen leicht an, der Klinikaufenthalt ist aber immer noch notwendig. Wahrscheinlich wird sie übermorgen nach Jena gebracht, wo sie mindestens den größeren Teil der Woche mit umfangreichen Voruntersuchungen zubringen wird.

Sonntag, 6. September 2009

Bunter Spätsommer

Greta ist seit Mittwoch wieder stationär in der Klinik (Leipzig), zur Sicherheitsverwahrung wegen schlechter Blutwerte. Die Stimmung war angenehm am Wochenende, das Kind guter Dinge, ohne allerletzten Übermut. Bei mir war im Maumau der Wurm drin, ich verlor alle drei Zehnerpartien. Greta lernt Zahlen am LÜK-Kasten (Gruß an die Konkurrenz) und wirft sich neuerdings die Pillen ein wie ein Alter. Als Patientin ist sie eindeutig handlicher geworden. Steffi war ziemlich genervt von der Woche, hatte gehofft, dass die Tochter noch länger Heimaturlaub bekommt. Immerhin kam sie Donnerstag Nachmittag zu den Pferden, denn Katja, unser Kindermädchen, ist inzwischen mit Greta so vertraut, dass sie auch einmal den Klinikdienst übernehmen konnte. Das eröffnet gewisse Spielräume.
Wir haben einen Terminplan für Jena. Der sieht die Voruntersuchungen ab 14.09. vor und am 21.09. die Konditionierung, d.h. die ultimative Intensiv-Chemo, welche hoffentlich alle restlichen Tumorzellen totmacht und das marode Knochenmark gleich mit. Am 28. soll dann die Transplantation erfolgen („Stunde null“). Nachdem zwischenzeitlich der zweitbeste Spender favorisiert worden war, soll es nun doch der Ami werden. Bedingung ist, dass Greta sich keine Infektion holt und sich in gutem Allgemeinzustand befindet, beides ist momentan gegeben. Daumendrücken!
Am Freitag war Schulfest. Ich war bei feuchtem Wetter um halb fünf da und fand meine großen Töchter nicht. Das klärte sich eine Dreiviertelstunde später. Obwohl sie beide die Erlaubnis haben, alleine vom Schulhort nachhause zu gehen, waren sie im Hort gehalten worden, weil sie angeblich genau dort mit mir verabredet waren (waren sie tatsächlich). Deshalb wurden sie nicht zum Schulfest hinunter in den Hof geschickt, muss ja alles seine Ordnung haben. Um Sechs waren Grill und Budenzauber in vollem Gange, es regnete leicht, was der guten Laune keinen Abbruch tat. Die Polizei – wir haben Humor, wir haben nach Berlin die höchste Polizeidichte – fuhr in einem grün-weißen Trabant-Cabrio vor. Um sieben regnete es Bindfäden, die Lehrer sangen und die Kinder tanzten auf offener Bühne. Die Eltern waren begeistert und hielten jede Regung der kleinen Stars digital fest. Rangeleien zwischen Kameraleuten und Schirmträgern. Um Acht goss es aus Kübeln, der Grill war ersoffen, das Polizei-Cabrio auch, die Besucher ergriffen die Flucht. Nur die Lehrer sangen und tanzten immer noch, was mir einmal mehr großen Respekt vor diesem Berufsstand abnötigte.
Stella hat die erste Vier in Mathe eingefahren, Clara große Schreibmängel bescheinigt bekommen. Auch die Nebenschauplätze verlangen volle Aufmerksamkeit, Schlampereien werden bestraft. Gestern wurde unser Zweitfahrrad geklaut, weil ich dachte, einen Tag kann man es ohne Schloss vor die Klinik stellen. Hat jemand ein halbwegs gutes Erwachsenen-Fahrrad zu verkaufen?
Am Sonntagabend dann die Höchststrafe für Papa. Besuch stand vor der Tür, und vier schreiende Mädchen wollten zur „Kleinmesse“. Ich habe noch nie verstanden, was diese katholisch-bayerisch-rheinisch-westliche Institution eigentlich in Sachsen verloren hat – und die Leipziger wissen es anscheinend auch nicht. Wenn es etwas noch trostloseres gibt als den Wintersportort Kühtai im Hochsommer, dann ist es die Leipziger Kleinmesse an ihrem letzten Tag. Ballermannmusik allenthalben, und niemand mehr da. Die Grillfrau kratzt die letzten Pommes zusammen, um unsere Kinder glücklich zu machen. Die Achterbahn sah original aus wie die Bahnstrecke zwischen Wernigerode und Vienenburg. Ich hab fast gekotzt, aber die Damen hatten ihren Spaß.