Sonntag, 31. Januar 2010

Tag Hundert

Heute haben wir den Tag Hundert nach der Knochenmarks-transplantation erreicht. Das gilt als wichtig, ohne dass ich genau erklären könnte, warum. Dieses Jubiläum wird zum Anlass genommen, Anfang nächster Woche die dritte Rückenmarks-punktion zu machen – einer der Gründe dafür, dass Greta noch immer auf Station ist. Der zweite Grund sind drei oder vier Medikamente, die noch durch ihren Tropf laufen, in den nächsten Tagen allerdings reduziert werden. Der dritte Grund ist ihre noch immer mangelhafte selbstständige Nahrungsmittelaufnahme. Hier könnte man das Risiko eingehen und die Darmsonde ziehen, das Kind einfach zuhause dem Einfluss seiner gefräßigen Schwestern aussetzen und schauen, was passiert. Infekte sind zuletzt ausgeblieben, der Allgemeinzustand ist deutlich verbessert, die Betreuung des unternehmungslustigen Kindes in der Klinik zunehmend anstrengend. Der Renner an diesem Wochenende war Sagaland, unter harten Wettbewerbsbedingungen. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Fünfjährige das spielen können. Es bleibt dabei, dass in Gretas Kopf bislang nicht viel kaputt gegangen sein kann.
Hoffentlich kommt irgendwann wieder eine Zeit, wo man sich auf die nähere Zukunft freuen kann. Im Moment ist es wie bei der Bundeswehr. Wieder eine Woche, wieder ein Monat herum. Ich könnte mir ein Maßband in die Tasche stecken zum Tage-Abschneiden, der Unterschied: Es gibt keinen Entlassungstag. Wenn ich erzähle, wir waren sechs oder acht Wochen am Stück in der Klinik, höre ich: Oh je, Ihr Armen!, weil sich jeder vorstellen kann, dass das ungefähr zweimal Sommerurlaub ist. Wenn du aber was von sechzehn Wochen erzählst, denken die Leute: Schön, dann habt Ihr euch ja anscheinend gut eingerichtet in der Situation. Mit der Zeit wird es einfach langweilig, vor allem für die Außenstehenden.
Ich interessiere mich wie nie zuvor für Wetter und Jahreszeiten. Endlich der Januar geschafft. Inzwischen ist es morgens um sieben bei klarem Himmel schon ein bisschen dämmerig, bei euch in Köln dagegen noch stockfinster. Wahrscheinlich deshalb wirbt der Osten mit „Wir stehen früher auf“. Spötter haben daraus „Wir stehen auf Früher“ gemacht, was völlig unberechtigt ist, denn wir sind hier erfreulich traditionsarm. Da wird so lange gewerkelt, bis die Strukturen stimmen. Deswegen hat Sachsen auf Pisa reagiert. Seit 2006 gibt es offiziell „Gemeinschaftsschulen“, weil Durchlässigkeit und individuelle Fördermöglichkeiten im zweigliedrigen Schulsystem zu Recht als suboptimal gelten. Eine dieser Pilot-Schulen steht in Leipzig und ist von hier aus mit der Straßenbahn ohne Umsteigen zu erreichen. Mehr wird an dieser Stelle noch nicht verraten. Stella hat in Mathe eine satte Drei geschrieben und damit die formalen Kriterien für die Gymnasialempfehlung erfüllt.

Sonntag, 24. Januar 2010

Weihnachten einen Monat vorbei


Von Samstag auf Sonntag war ein Quantensprung in Gretas Befinden zu verzeichnen. Spielte sich der Samstag noch im Bett ab, stand das Kind heute auf und rannte zwar noch nicht, aber stakste doch ganz fröhlich durch die Station, aß sogar fast ein halbes halbes Nutellabrötchen. Weiter so!
Den größten Teil des Tages brachten wir im Spielzimmer zu, dessen Ordnung legendär ist. In zweihundertachtzig Spielen kein einziges fehlendes Teil, die Spielanleitungen in die Kartondeckel geklebt, damit sie nicht verloren gehen. Die dafür seit Jahrzehnten verantwortliche Erzieherin ist denn auch die erste und einzige lebende Angestellte der Universität, nach der eine große Hauptstraße auf dem Campus benannt worden ist.
Greta freilich gibt sich momentan mit 32 kleinen Kartons zufrieden. Wie Clara zuhause favorisiert sie im Moment – Bauernskat! Ja, mit Sebastian zu Besuch gabs am Samstag sogar eine echte Skatrunde zu dritt. Da wir mit Greta inzwischen wieder perspektivisch planen können, muss ihre Liebe zum Kartenspiel zusätzlich Hoffnung geben. Hatte mein seliger Vater noch das Glück, mit nur einem Kind eine feste Familien-Skatrunde etablieren zu können, sah es für mich zunächst nicht danach aus. Aber mit Clara und Greta – das könnte glatt noch was werden.
Fahrradfahren geht wieder, Fußballspielen auf der Rosentalwiese geht noch nicht. Joggen geht immer noch. Damit ich Sonntagnachmittag nicht mit den Schlitten und Kinderwagen kollidiere, bin ich jetzt auf morgens halb sieben ausgewichen. Es wird ja nie ganz dunkel in der Stadt, bei Schnee schon gar nicht, und ich hab mir heute früh nur eine leichte Prellung geholt, weil ich den gefällten Baum, der quer über dem Weg lag, fast noch rechtzeitig gesehen hätte. Um diese Zeit trainieren sonst nur Männer meines Alters, die Weihnachten zuhause rausgeflogen sind und beschlossen haben, im neuen Jahr alles anders zu machen. Und Igor natürlich. Igor ist 73, hat sein Berufsleben auf den Ölfeldern von Semipalatinsk gelebt und verfrühstückt nun bei seinem eingedeutschten Neffen die Rente von 17,70 Euro, die ihm der russische Staat zahlt. Igor braucht den Sport. Nach dem Training springt er immer in den Weiher. Im Winter hat er sein Beil mit, um das Eis aufzuhacken. Neulich hätte ihn fast die Polizei mitgenommen, weil er nicht erklären konnte, was er mit dem Beil im Park wollte. Und auf die Russischkenntnisse der Leipziger Polizei ist auch kein Verlass mehr. Zum Schluss ließen sie Igor laufen, weil es einfach allen zu kalt war zum Diskutieren.

Sonntag, 17. Januar 2010

Tauwetter

Greta geht es heute deutlich besser als am Wochenende zuvor. Sie hat seit anderthalb Tagen nicht mehr gebrochen, isst zwar kleine Mengen, aber sie isst. Der Thrombozytenwert, der Monate lang wackelig war, ist angeblich auf einem historischen Hoch angelangt, zentrale Leberwerte sind deutlich verbessert. Problem: Da bei ihr die ganze Verdauung durcheinander ist, hat sie jetzt Clostridien, Bakterien, die zwar nicht weh tun, aber sehr ansteckend sind. Für die Betreuer bedeutet das „Umkehrpflege“: Gehst du aus dem Zimmer heraus, musst du den einen Kittel aus- und einen anderen anziehen. Kommst du zurück: Kittel aus, Kittel an. Nicht weiter schlimm, aber lästig.
Kulturell war das Wochenende vom Schwarzen Peter geprägt. Greta freut sich immer, wenn sie ein neues Pärchen bekommt, obwohl das zu zweit bei jedem Zug eigentlich unausweichlich ist. Wir haben im Krankenhaus ein Retro-Spiel mit Motiven aus der Zeit Alfred Brehms, auf dem es so seltsame Bezeichnungen wie „Mausbock“ (der nicht verwandt mit dem Hausbock ist) oder „Maulwürfin“ gibt. Thüringen ist eine Art Mutterland der Spielkarten, und wir haben das dortige Museum immer noch nicht besucht. Schade, ich wollte mir aus dem McDonald-Haus in Jena ein Souvenir mitnehmen und hab’s dann doch vergessen: ein Verkehrserziehungsquartett. Wer prangt auf jedem Kartenrücken, als Kindervorbild mit oranger Weste und Wegweiser in der Hand? Genau: Dieter Althaus. Amerikanische Sammler zahlen für das Spiel jetzt 500 Dollar.
Mit Stellas Gymnasialempfehlung wird es wohl auf Anhieb nichts werden, selbst wenn sie die letzte Mathe-Arbeit dieses Halbjahrs am Freitag gut schreibt. Die Lehrerin bestätigte sogar, dass Stella gut organisiert sei und keine nennenswerten Defizite durch elterliche Vernachlässigung zeige. Aber die dummen Zahlen gehen einfach nicht in ihren Kopf. Bei Clara ist das etwas anders. Wenn wir Skat mit offenem Blatt spielen, braucht sie nach Offenlegung der Karten ungefähr drei Sekunden, um zu wissen, was im (noch verborgenen) Stock liegen muss. Greta erkennt nicht mehr nur das Greta-G in Texten, sondern irgendwie ganzheitlich auch einzelne Wörter von Untertiteln, fragt englische Begriffe nach und gemahnt daran, dass sie vielleicht, wenn alles weiter gut läuft, nächstes Jahr auch in die Schule geht.
Es taut kräftig, auch die Pferde bewegen sich wieder, aber wir freuen uns nicht zu früh. Die Familien-Ressourcen reichen noch für etwa acht Wochen Krankenhauswinter.

Sonntag, 10. Januar 2010

Wieder in Leipzig


Das Nachsitzen in Jena war kürzer als befürchtet. Freitag Mittag hatten zwölfeinhalb Wochen ein Ende, und Greta wurde gerade noch vor Ankunft der Winterfront nach Leipzig transportiert.
Die Behandlung in Jena war ein voller Erfolg. Dass erneut eine Leukämie ausbricht, ist extrem unwahrscheinlich. Anders sieht es mit dem Neuroblastom aus. Das rührt sich zwar seit anderthalb Jahren nicht mehr, stellt aber immer noch eine Bedrohung dar. Ansonsten ist das Kind multimorbid und wird gewiss noch viele Wochen in der Leipziger Klinik zubringen. Mir kommt vor, sie hängt an noch mehr Tröpfen als zuletzt in Jena, hat nun auch eine stabile Dünndarmsonde gelegt bekommen, die sie nicht mehr erbrechen kann. Nach wie vor behält sie keine Nahrung im Magen und versucht es auch gar nicht erst.
Zum schlechten Allgemeinbefinden trägt maßgeblich die Unterfunktion der Schilddrüse bei, die das Resultat einer langwährenden Unterversorgung ist und nicht so schnell behoben werden kann. In Jena hatten die Ärzte Greta ja rasch und gewaltsam die Magensonde gelegt, um ihr die nötige Tablette zerbröselt einhelfen zu können. Die Leipziger waren nun schlauer: Sie haben dasselbe Medikament einfach in flüssiger Form bestellt, fünf Tropfen am Tag genügen.
Steffi hätte am liebsten den ganzen Samstag bei den Pferden zugebracht, aber das hat gerade nicht viel Zweck. Die Tiere stehen breitbeinig, eingefroren und zugeschneit auf der Wiese. Mit Kaltblütern kann man das machen. Das ist auch ausgesprochen praktisch, denn in diesem Modus sind die Pferde vollkommen wartungsfrei.
Sich mit dem Fahrrad durch die Stadt zu bewegen, ist im Moment ziemlich albern, und man muss froh sein, wenn einen kein Bekannter dabei beobachtet. Zum Glück sind die Leipziger Straßenbahnen erstaunlich winterfest. Um so schlechter ist die Straßenräumung, das ist in Leipzig schon legendär. Ich glaube, die Stadt schickt ihren orangen Fuhrpark in den ersten beiden Januarwochen immer komplett zur Inspektion, unabhängig vom Wetter.

Montag, 4. Januar 2010

Greta bleibt in Jena

Gretas Verlegung nach Leipzig wurde im letzten Moment gestoppt, uns hat es schon fast nicht mehr gewundert. Es gibt einen verdächtigen Leberwert, aufgrund dessen man zunächst eine Hepatitis ausschließen muss, außerdem führen die Ärzte Gretas Dauererbrechen und Ess-Unlust jetzt doch auf eine akute Magenschleimhautentzündung zurück. Es wäre ja gut, wenn es dafür endlich einen konkreten Grund gäbe. Das Hauptproblem: Über die vielen Feiertage war die Kinderklinik Jena so unterbesetzt, dass einige wichtige Routine-Untersuchungen gar nicht gemacht worden sind. Jetzt wird erst einmal eine Magenspiegelung stattfinden.
Das Ferienabschlusswochenende verbrachten wir vergleichsweise gemütlich mit Familienbesuch. Auch die Kinder wollten unbedingt zum Völkerschlachtdenkmal, weil sie sich von dem winterlichen Ausblick viel versprachen. Die Sicht reichte dann immerhin bis zum Krematorium. Es war eine durchaus delikate Herausforderung, ausgerechnet einer Französin dieses unvergleichliche Zeugnis deutscher Geistessubtilität und filigraner Memorialkultur nahezubringen. Zum Glück nahm sie es mit Humor und geschichtlichem Interesse.
Stella und Clara sind schwer vergrippt. Stella ist traurig, weil Mama wieder nicht da ist, und hat keine Lust mehr auf Handball. Clara muss morgen zur nullten Stunde in die Mathe-Förderung. Alles Schikane.

Freitag, 1. Januar 2010

Es darf gehofft werden

Wir haben in 2009 erstaunlich viel erreicht und dürfen sehr zufrieden sein. Lob ist angebracht. Der Zusammenhalt hat gestimmt, Umfeld und Infrastruktur konnten noch verbessert werden. Moral und Teamgeist waren hervorragend. Nun dürfen die Träume nicht in den Himmel wachsen. Wir werden 2010 gut damit ausgelastet sein, uns zu konsolidieren und das Erreichte zu sichern. Und tut mir einen Gefallen: Redet nicht vom Aufstieg. Wenn die Fortuna am Saisonende noch einen einstelligen Tabellenplatz einnimmt, haben wir doch eine hervorragende erste Saison in der Zweiten Liga gespielt.
Silvester in Jena war vollkommen trostlos. Ich habe den Jahreswechsel stocknüchtern verschlafen. Dem Leipziger Teil der Familie ist es, glaube ich, gut ergangen. Die Eltern haben sich wegen Zugverspätung heute wieder original drei Minuten auf dem Weg zwischen Bahnhof Jena Paradies und McDonald-Haus ausgetauscht.
Greta wird am kommenden Montag auf die KiK 4 nach Leipzig verlegt, im Krankentransport, liegend. Das ist nicht das Traumergebnis zum Jahresende, aber es wird immerhin eine große organisatorische Erleichterung für die Familie bringen. Die Leber-VOD ist weg, Nierenunterfunktion auch, das Herz arbeitet normal, diverse Virenerkrankungen sind ausgestanden, die Schmerztherapie wird heruntergefahren, Morphium nur noch in minimaler Dosis gegen die Suchterscheinungen verabreicht.
Problem bleibt die selbstständige Ernährung. Man kann dauerhaft alle Nährstoffe und fast alle Medikamente durch den Tropf zuführen, aber natürlich nicht zuhause. Am Dienstag brauchte Greta dringend ein Medikament für ihre Schilddrüse, was sich übers Blut kaum dosieren lässt. Und da ihr diese Medizin oral partout nicht einzuhelfen war, legte der Arzt eine Magensonde mit Nasenschlauch. Abscheuliche Prozedur, drei Erwachsene mussten Greta festhalten. Nach einer Stunde hatte sie das untere Ende vom Schlauch wieder herausgewürgt, immerhin war das Schilddrüsenmittel im Magen. Pädagogisch war das sinnvoll, denn nun können wir das arme Kind mit dieser Nasenschlauch-Erfahrung erpressen, wenn es wieder nichts essen will. Man könnte es ihr nicht verübeln, wenn sie später magersüchtig würde.
Was geht, sind Traubenzucker-Bonbons, damit sind im Moment alle froh – langfristig auch unser Familienzahnarzt, bei dem Greta sicher Stammgast wird, wenn sie überlebt. Im Moment ist Clara dort in Behandlung mit einem dicken Abszess. Dagegen hilft auch kein Zähneputzen.
Was 2010 bringen wird? In Krebskreisen hört man zum Jahreswechsel öfters: „Noch schlimmer kann es nicht werden.“ Eine solche Aussage ist naturgemäß eine große Dummheit und zeugt von Phantasielosigkeit. Ich wünsche mir, dass wir auch 2010 ohne großen Verlust überstehen.