Montag, 30. November 2009

Luxusprobleme

Am Freitagmorgen hätte ich in einem Anfall von vorweihnachtlicher Gutherzigkeit beinahe für das McDonald-Haus in Jena gespendet. Drei Stunden später war ich froh um meine Entscheidung, denn ich betrat dort eine komplett neue Küche. Die alte Küche war völlig in Schuss und hoch funktionell – aber eben „schon 15 Jahre alt“. Und dabei muss das Haus doch bald der Kinderklinik nach Lobeda hinterherziehen. Der ganze Apparat ist völlig hypertrophiert. Greta hat heute schon die ersten beiden Adventskalender geschenkt bekommen. Dabei kann das arme Kind noch kaum essen.
Da engagiere ich mich doch lieber bei dem Förderverein unserer Grundschule. Die strengen gerade eine Klage an, weil die Schule zu klein wird. Die Waldstraßen-Wessis verdienen alle gut und vermehren sich entsprechend. Die Schulverwaltung, die sowieso immer schuld ist, will einfach den Sprengel nicht verkleinern. Dabei kommen eh schon so viele Russenkinder aus den Plattenbauten südlich der Jahn-Allee. In der Petition steht, dass es inzwischen richtig „laut“ im Hort und bei der Schulspeisung zuginge. Schlimm. Von „Containern“ ist gar die Rede, die aufgestellt werden müssten. Ja, wollt ihr denn die zukünftige Elite mit Asylbewerbern auf eine Stufe stellen? Nein, das Boot ist voll!
Greta interessiert das alles gar nicht. Sie ist ruhig und niedergeschlagen, irgendwie frustriert. Das kennt man gar nicht an ihr. Dabei geht es objektiv stetig aufwärts. Mehrere Ärzte haben sich heute unabhängig voneinander – bei aller Vorsicht, die Onkologen eigen ist – deutlich zufrieden mit dem Verlauf von Gretas Behandlung gezeigt. Der Allgemeinzustand bessert sich aber nur langsam. Greta isst winzige Häppchen, trinkt winzige Schlückchen, steht auf wackligen Beinen, schläft viel, bastelt ein wenig und lässt sich gerne vorlesen. So bald wird sie nicht entlassen werden. Das Großfamilien-Weihnachten in Leipzig ist möglich, aber keineswegs sicher.
Mit den Nebeln von Avalon bin ich endlich durch. Zum Schluss hat das Lesen Kopfschmerzen gemacht. Was also zeichnete die Protagonistinnen des versunkenen Matriarchats aus? 1. Sie haben bei jeder Besprechung zuerst gründlich darüber nachgedacht, ob ihr Gegenüber mehr graue Haare bekommen hat, angemessen gekleidet oder gar schon wieder schwanger ist. 2. Wenn sie etwas nicht verstanden haben, nannten sie es Magie. In diesen Zeiten war ziemlich viel Magie. 3. Da Frauen im Schwertkampf nicht so gut waren, bezwangen sie die Männer (und die Frauen) mit Gift, Heimtücke und doppelter Grausamkeit. Nach alledem darf man froh sein, wenn heute und in Zukunft die meisten Führungspositionen von Männern besetzt werden. Immerhin haben Männer Demokratie und Aufklärung erfunden. Außerdem können sie besser kochen.

Freitag, 27. November 2009

Freitag frei

Die Grippewelle ist nur unwesentlich abgeebbt. Stella hustet seit zwei Wochen wie ein Kette rauchender Fuhrmann, wahrscheinlich liegt das an dem Hustensaft, den sie täglich bekommt. Ich habe mir ein Antibiotikum eingeworfen, fahre nach Jena und bleibe bis Montag bei Greta. Steffi wird an diesem Wochenende nur übers Handy auf dem Reitplatz zu erreichen sein.
Der Aufwärtstrend in Jena hält an. Greta isst angeblich Fischstäbchen, spielt Ball im Zimmer und darf demnächst kleine Ausflüge machen.
Stella und Clara spielen jetzt Bauernskat. Dabei lernen sie Rechnen, zumindest Addition bis 120. Stella hat eine Drei plus in Mathe geschrieben, der Schülerhilfe sei Dank. So langsam wird es Licht am Horizont.

Sonntag, 22. November 2009

Bald sechs Wochen Jena

Wir haben diese Woche gar nicht getauscht in Jena. Die Ärzte rieten uns dringend davon ab, Greta der Virenflut auszusetzen. Für mich waren das fünf außergewöhnlich erholsame Tage: dreimal Sport, fünfmal acht Stunden schlafen, das gab es seit der Kur nicht mehr.
Aber nach zwei Wochen vermisse ich meine Frau. So lange waren wir noch nie getrennt. Dafür haben wir eigentlich nicht geheiratet. Oder haben wir genau dafür geheiratet?? Greta ist als Person in diesem Haushalt schon vergleichsweise abstrakt. Die Wahrheit zu sagen: Stella, Clara und Papa zuhause, das läuft ausgesprochen rund. Und bis auf das Kinderzimmer ist die Wohnung sogar halbwegs in Schuss. Beim Abendbrot ließen wir Reminiszenzen passieren. Stella erzählte davon, dass Mama beim Wegzug aus Braunschweig geweint habe. Darauf Clara: Warte mal ab, bis Greta stirbt, dann wird sie erst mal weinen! Wir haben uns darauf geeinigt, dass vielleicht doch erst ein ablebendes Pferd den nächsten Anlass gibt.
Der tagesaktuelle Leukozytenwert aus Jena beträgt 3,3 ppm. Schon am vergangenen Montag hatte die Rückenmarkspunktion ergeben, dass das neue Knochenmark tatsächlich zu hundert Prozent angewachsen ist. Die großen Hürden sind also genommen. Auch GvH-Reaktionen waren bisher kein Thema. Aber über den Berg sind wir noch nicht.
Gretas Allgemeinzustand bessert sich nur langsam. Vorgestern stieg sie erstmals wieder aus dem Bett – um den Videorecorder anzumachen. Die Nierenwerte stabilisieren sich und die besonders gefährdeten Leberwerte sind unverändert, was zunächst kein Nachteil, sondern ein Zeitgewinn ist. Die nächtliche Sauerstoffzufuhr über eine Maske ist abgehängt worden, die Morphin-Gaben gesenkt, ganz langsam wird das eingelagerte Wasser abgebaut.
Für Steffi ist es jetzt hart, in die dritte Woche am Stück zu gehen. Jena ist inzwischen düster und kalt, das Durch-die-Stadt-Schlendern macht keinen Spaß mehr, elterliches Draußensitzen vor dem McDonald-Haus bei Wein und Tratsch entfällt auch – und dazu der jammervolle Zustand des FC Carl Zeiss Jena.
Übermorgen sind wir sechs Wochen dort, aber es werden selbst bei gutem Verlauf sicher noch zwei bis drei Wochen mehr werden, bis das Kind keine Infusionen mehr braucht und selbstständig essen kann. Freuen wir uns auf Weihnachten. Bis dahin wird es wohl geschafft sein.

Stella und Clara allein zuhaus

Clara hat heute mal mit meinem Handy draufgehalten. Nachdem sie schon in Bad Oexen mit der kleinen Digital-Kamera besonders eifrig dabei war, sollten wir den bürgerlichen Haushalt zu Weihnachten endlich um ein solches Teil bereichern. Das Kind hat ja so viel Talent!


Das Wichtigste sind gute Freunde.



Frische Nahrung ist auch nicht zu verachten.


Das Spielgeld von Cafe International, von Clara arrangiert.



Das ist nicht etwa suizidal, sondern ein fröhliches, turnendes Kind, Clara November 2009.


Stella nutzt derweil die freien Tage, um über sich und das Leben nachzudenken.

Mittwoch, 18. November 2009

Büßen und Beten in Sachsen

Wir haben unsere Jena-Planungen geändert. Ich fahre frühestens Freitag, weil ich mittendrin stecke in einer Waldstraßenviertel-Pandemie, die ich nicht nach Jena tragen sollte. Stella und Clara waren Montag und Dienstag zuhause und überwiegend im Bett. Ich kontrolliere jeden Morgen, ob sich bei ihnen Ringelschwänze bilden, denn dann muss man ja zum Arzt gehen. Aber diese Art von Infekt hätte man früher wohl „Erkältung“ genannt. Die Kinder rotzen, schniefen und husten, dass es für ein empfindliches Gehör kaum zum Aushalten ist. Von den Betten aus machen sie Taschentuch-Weitwurf nach dem Papierkorb, den sie meist nicht treffen. Entsprechend sieht das Zimmer aus. Heute Abend sind die beiden schon wieder sehr lebendig.
Sie sind auch gut ernährt, denn Onkel Roland hat ihnen beigebracht, dass Obst und Gemüse sehr wohlschmeckend sein können. Die Voraussetzung allerdings: eine erwachsene Betreuungsperson übernimmt das Schälen und sonstige Unannehmlichkeiten. Ich habe also einen Sack Orangen gekauft und mir zum x-ten Mal vorgenommen, jeden Tag einen Teller mit saftigen Obststücken auf den Tisch zu stellen.
Greta hat nun doch die Lebervenenverschlusserkrankung (VOD), eine häufige Komplikation, nach der die Ärzte in den letzten Wochen schon intensiv per Sonograf gesucht haben. Bestimmte Abfallprodukte der schweren Medikamente führen zu Veränderungen in der Venenwand, und diese Veränderungen begünstigen eine Verstopfung. Ein kleiner Thrombus wurde nun gefunden. Die Ärzte geben Defibrotide, müssen freilich aufpassen, dass sie damit nicht wieder innere Blutungen befördern, die noch vor kurzer Zeit zu den größten Risiken gehörten. Ein Glück, sagen sie, dass diese Komplikation erst am Tag 25 nach der KMT aufgetreten ist. Sollte die Vene sich ganz zusetzen, ist es aus mit Greta. Es kann aber gut sein, dass es harmlos verläuft und der Thrombus sich wieder auflöst. Die Nierenwerte sind auch nicht in Ordnung. Das eingelagerte Wasser wird nur sehr langsam abgebaut. Von größeren Eingriffen wie einer Drainage wird aber einstweilen abgesehen.
Als ich diese Dinge mit Steffi am Telefon besprochen hatte, fragte Clara: Wie hoch ist Gretas Prognose jetzt? Nachdem ich vor ein paar Tagen etwas leichtsinnig 80 Prozent in die Runde geworfen hatte, musste ich mich nun auf 60 Prozent korrigieren. Clara lief sofort ins Kinderzimmer und rief: Stella, es gibt schlechte Nachrichten ...
Obwohl Clara also eindeutig einen rationalen Zugang zur Welt hat, macht sie gerade eine religiöse Phase durch - wie Stella vor zwei Jahren. Wir haben eine CD geschenkt bekommen mit christlichen Kinderliedern, die tatsächlich ganz fetzig sind und die ganze Tage rauf und runter gelaufen sind. Nun hat Clara eine Tabelle angelegt. Dort trägt sie wichtige Bezugspersonen ein, die sie fragt, ob sie an Gott glauben oder nicht. Von der Mehrheitsentscheidung will sie ihre eigene Haltung dazu abhängig machen. Im Grunde ist das ja auch ein sehr rationaler Angang.

Sonntag, 15. November 2009

Die Grippe geht um

Clara hatte heute hohes Fieber. Pech für sie: Es war Fahrrad-Putztag, und den Euro hätte sie sich gerne verdient. Ich habe den vermeintlichen Simulantinnen vom Mittwoch Unrecht getan. Alle sind krank geworden. Die Kinderärzte haben frühmorgens Trauben von Menschen vor der Tür.
Inzwischen ist es mit Clara schon besser. Zum Glück bleibt Roland auch morgen noch da, so dass das Kind nicht alleine zuhause bleiben muss. Mein Einsatz in Jena ab Mittwoch wackelt, zumindest müssen wir prüfen lassen, wie groß das Risiko ist, dass ich dort mit Grippe-Inkubation Schaden anrichte.
Gretas Leukozyten-Wert lag heute bei 1,6 ppm, die Sterilpflege ist bereits aufgehoben. Sie hat aber immer noch viel Wasser eingelagert und ist sehr müde. Wahrscheinlich dreht sie erst voll auf, wenn ich komme, und ich muss dann lange Ausflüge mit ihr machen und im Spielzimmer des McDonald-Hauses mit ihr herumtoben.
Heute ist mein erster freier Tag seit fünf Wochen. Ich genieße das Nichtstun und bin schon um sechs Uhr beim Vorlesen eingeschlafen. Ansonsten: Der Herbst hat kaum angefangen, trotzdem wird es um vier Uhr dunkel. Solche Zustände gibt’s auch nur im Osten. In Düsseldorf war es übrigens fünf Grad wärmer als in Leipzig.

Mittwoch, 11. November 2009

Wenigstens mit Greta geht es aufwärts

An diesem abscheulichen Tag für Jena, Hannover und Deutschland stellt sich der Leipziger Mikrokosmos so dar, dass Clara und ihre zwei Freundinnen sich vormittags mit Bauchweh und Kopfschmerzen im Sekretariat krank meldeten und abgeholt werden wollten. Das Nachbarschaftsnetzwerk funktionierte zum Glück, und ich musste meinen Arbeitstag erst mittags abbrechen.
Richtig krank wurde dann nur eine der drei Damen. Anscheinend hatten sie alle keine große Lust auf die Vertretungslehrerin. Ihr Klassenlehrer nimmt nämlich eine Woche Auszeit, weil sein kleiner Sohn Durchfall hat. Staatsdienst halt.
Clara und ich nutzten den Nachmittag und spielten „heile Welt“, bestehend aus 19 Runden Maumau und gemeinsamen Mathe- und Deutsch-Hausaufgaben. Unter geringer Anleitung sind beide Großen eigentlich sehr anstellig mit den Schularbeiten.
Wenigstens in der Kinderklinik Jena sieht es gut aus. Nachdem wir am Montag die Nachrichten vom Sonntag anzweifeln mussten, stieg der Leukozytenwert gestern erneut auf 0,2, heute dann auf 0,4 ppm. Greta ist allerdings immer noch sehr schlapp.
Steffi muss bis Mittwoch aushalten, weil ich am Wochenende in Düsseldorf tage. Vetter Roland wird die Stellung zuhause halten, was die Großen jetzt schon prima finden.

Sonntag, 8. November 2009

Die neuen Sheriffs sind da


Das ist Leukozyt Sam, geboren am 07.11.2009, am 08.11.2009 um 07:40 Uhr in Jena fotografiert – mit dem Mikroskop natürlich, denn Sam ist in Wirklichkeit nur 10 Mymeter groß. Er und seine Brüder verdoppeln ihre Anzahl jetzt einmal täglich und bringen Gretas Abwehrsystem wieder auf Vordermann.

No ordinary girl

Greta sieht aus wie ein Zombie, der frische Haarflaum ist wieder weg, das Gesicht aufgedunsen, die Augen wässrig-trüb, der Mundraum eine einzige Wunde, die Körperfarbe zwischen braun, lila, gelb, grau changierend. Ihr Verhalten ist bedrückend souverän und erwachsen. Völlig humorfrei und diszipliniert gibt sie Anweisungen dazu, was sie will oder was die pflegerische Notwendigkeit gerade erfordert. Es ist eine Leerformel, in diesem Kontext von einem „tapferen Kind“ zu sprechen. Oder habt ihr etwa schon mal von Krebseltern gehört, die ihr Kind als Weichei oder Looser bezeichnet haben? Trotzdem nötigt einem Gretas Performance Bewunderung ab, und wir hatten die Woche einmal den lästerlichen Gedanken, wie sich wohl Stella in dieser Lage aufführen würde, die sich kaum noch zum Zahnarzt traut. Greta ist echt aus hartem Holz geschnitzt.
Geheult hat sie am Wochenende nur ein einziges Mal, als sie sechs Karten ziehen musste beim Maumau. Das geht nämlich seit Samstagabend plötzlich wieder, und das scheint kein Zufall gewesen zu sein. Denn Sonntag früh kam die erlösende Meldung, dass das Blutbild 0,2 ppm Leukozyten ausweist. Das heißt, dass die Tätigkeit der Spenderzellen bereits an Tag 15 nach der KMT klar nachweisbar ist. Das ist früh und lässt darauf hoffen, dass das neue Blut und seine Umgebung auch weiterhin konstruktiv zusammenarbeiten. Tatsächlich gab es von gestern auf heute schon eine spürbare Verbesserung in Gretas Allgemeinbefinden.
Kulturell war das Wochenende von „H2O – plötzlich Meerjungfrau“ dominiert, einer australischen Teenie-Soap, die ziemlich gut ist, dreimal besser jedenfalls als das Zeug, das wir vor vierzig Jahren glotzen mussten: Daktari, Flipper, Bonanza, Lassie – Raumschiff Enterprise natürlich ausgenommen. Heidi, Wicki und Biene Maja taugen auch nicht viel mehr, Sponge Bob dagegen ist echt anspruchsvoll! Die Kinder haben es heutzutage besser, allein schon deshalb, weil sie nicht mehr so früh sterben.

Mittwoch, 4. November 2009

Lage stabil

Tag Zwölf ist in Jena ohne nennenswerte Vorkommnisse vorübergegangen. Greta mault jetzt herum, hat schon wieder Lust auf Filme und wurde heute von Clown Knuddel bespaßt. Ihr Gesicht ist etwas abgeschwollen. Ein leichter Ausschlag könnte sogar Anzeichen für erste neue Blutzellen sein. Der nächste Feind wird GvH heißen – Graft-versus-Host-Reaktion. Wenn die fremden Zellen ihre neue Umgebung bekämpfen, kann das zu allerlei Komplikationen führen und sogar dazu, dass man das neue Immunsystem erst mal wieder drosseln muss.
Erneut ist eine Weggefährtin gestorben. Für Steffi ist das immer besonders schmerzhaft. Diese Erfahrungen werden uns selbst beim bestmöglichen Verlauf der Greta-Geschichte nicht mehr verlassen.
Montag früh konnte Clara nicht in die Schule gehen wegen Ohrenschmerzen. Na prima, der Vater unabwendbar auf dem Sprung zur Dienstreise, blieb das kranke Siebenjährige also allein zuhause. Ich hoffe, das Urvertrauen von Stella und Clara in die Welt und in die Eltern ist auch am Ende der familiären Leidenszeit noch nicht gänzlich aufgebraucht. Am Nachmittag kamen dann Tante und Cousine aus Bamberg, seitdem ist die Welt zuhause wieder sehr in Ordnung.
Arbeitende Väter haben es gut. Der Stuttgarter Diensttermin endete gemütlich in einer Pizzeria. Und wer saß da an der Bar, still und in sich gekehrt vor Scampiteller und Mineralwasser? Der leibhaftige Thomas Hitzlsperger. Ein ganz schmächtiges Kerlchen, dem man eher einen Kunststoß beim Snooker zutrauen würde als jene Hämmer aus der zweiten Reihe, für die er so gefürchtet ist.

Sonntag, 1. November 2009

Leere im Kopf

Aus Jena gibt es nichts Schlimmes, aber auch wenig Erfreuliches zu berichten. Die massiven Nebenwirkungen der letzten Chemo tun sich nun mit der totalen Aplasie der Blutzellen zusammen. Greta kotzt Blut und bekommt entsprechende Konserven. Der Stoffwechsel ist weitgehend zusammengebrochen, wichtige Organe funktionieren nur noch eingeschränkt, das Kind hat ca. drei Liter Wasser eingelagert und sieht nun gar nicht mehr fotogen aus. Dass sie trotzdem wenig leidet, liegt an den Morphinen, die sie in einen Dämmerzustand versetzen. Filme interessieren sie nicht mehr, sie will nur noch vorgelesen bekommen, seit einer Woche dasselbe Buch (Morgen Findus wird’s was geben).
Das stundenlange Vorlesen unter dem Mundschutz führt bei dem Betreuer zu einer gewissen Sauerstoffarmut im Hirn, die der trostlosen Lage durchaus angemessen ist. Leider sind Die Nebel von Avalon auch nicht geeignet, die Leere im Kopf nachhaltig zu füllen. Viel zu lang das Buch, erschreckend wenig Ehrgeiz, ein wirklich buntes mythohistorisches Panorama zu malen. Nur Mittelalterklischees wie im DeFA-Sonntagsmärchen. Ich las irgendwann, dies Buch sei ein wesentlicher Beitrag zur Gender History der Achtzigerjahre gewesen. Dabei gibt’s nicht mal eine theologische Debatte mit Tiefgang, geschweige denn auch nur eine einzige knackige Schlachtschilderung. Stattdessen immer nur dieser Frauenkram. Das hätte Tanja Kinkel besser gekonnt. Und natürlich der alte Felix Dahn.
Nehmen wir dieses Schmalspurleben als Durchgangsstadium. Tag 9 ist geschafft, es gibt keine echten Komplikationen. Mehr dürfen wir im Moment nicht wollen. Dass wir an diesem Wochenende Halloween und Genesung feiern wollten, haben wir sowieso schon vergessen.

Was taugt der Blog?

Hat dein Kind zufällig auch gerade eine frische Krebs-Diagnose bekommen, und du überlegst, ob du einen Blog schreiben sollst? Nach knapp zwei Jahren Erfahrung dazu ein paar Bemerkungen.
1. Es ist praktisch und für alle Bekannten auch komfortabel, dass sie nachlesen können, wann immer sie wollen, wie bei euch der Stand ist. Du kannst die Lektüre aber umgekehrt bei niemandem voraussetzen. Und deine Replik: "Dazu brauchst du nur den Blog zu lesen" mag niemand gerne hören. Im Grunde weißt du bei kaum jemandem vorher, welchen Kenntnisstand er hat. Selbst gute Freunde finden die zähe und oft eintönige Krankengeschichte irgendwann langweilig und lesen nur noch sporadisch (wichtiger Tipp: Fasse dich kurz!). Im direkten Gespräch gibts da nur ein Mittel: Du setzt immer voraus, dass dein Gegenüber nicht auf dem neuesten Stand ist, Doppelinfos verübelt niemand.
2. Du musst dich selbst dann noch, wenn dir das Thema zum Hals raus hängt, darum kümmern, das medizinische Geschehen zu verstehen, vor allem dann, wenn du von Zellen und von Stoffwechsel zum letzten Mal in der Schule gehört hast. Und wenn du glaubst, du hast verstanden, was die Ärztin gesagt hat, heißt das noch lange nicht, dass du daraus drei Sätze geradeaus schreibst, ohne großen Bockmist zu verzapfen. Da musst du dauernd nachfragen oder wenigstens bei Wikipedia nachlesen, um die Wörter nicht falsch zu schreiben. Nur wenige sind in der glücklichen Lage, einen krebsforschenden Nachbarn zu haben, der ab und zu ein paar Zusammenhänge erläutert. Perspektivlos ist das für dich trotzdem, denn ohne Physikum hast du keine Chance, jemals das Niveau von schlechtem Wissenschaftsjournalismus zu verlassen.
3. Die wirklich harten Themen sind tabu: kein Wort über Drogen, Sex, Job und Geld. Wenn du erst mal auf 2780 Zugriffe im Monat gekommen bist, musst du dir darüber im Klaren sein, dass das vielleicht nicht mehr alles nur Freunde sind. Da können auch Leute dabei sein, die deine Verwundbarkeit ausnutzen wollen oder die dich zumindest sehr kritisch betrachten. Umgekehrt schaffst du dir im Blog einen „Interpretationsspielraum“, kannst die Lage etwas manipulieren. Aber das Kaschieren klappt nicht ewig, und irgendwann verlierst du Glaubwürdigkeit.
4. Du darfst niemanden angreifen, selbst wenn du genau dazu manchmal richtig Lust hast. Feindschaften kannst du nicht gebrauchen. Nicht jeder findet es cool, im Zusammenhang mit einer Unglücksfamilie lebenslang im Internet zu stehen. Also am besten gar keine Namensnennungen. Und auch keine Fotos mit Namen.
5. Du freust dich natürlich darauf, dass dein Blog mit Party, Luftballons und einem strahlenden Kind endet. Aber mach dir nichts vor, du erhöhst die Überlebenschance des Balgs mit der Schreiberei kein Stück. Am Schluss können auch die Friedhofsblumen stehen. Und wenn es zuende geht, ist es doppelt schlimm. Du musst dann weiterschreiben, auch wenn dir die Laune komplett vergangen ist und du nur noch deine Ruhe haben willst.
Trotzdem ist der Blog für deine Situation eine wunderbare Erfindung. Er sorgt wirklich dafür, dass jeder sich nach Interesse informieren oder dies lassen kann, und er verhindert, dass alle deine Brüder und Großtanten je dreimal die Woche anrufen.
Solltest du ein schriftlicher Typ sein, dann sei versichert, dass die Schreiberei für dich auch eine massiv entlastende Funktion gewinnt. Wenn das Schlimme erst mal in Buchstaben gepackt ist, verliert es den Schrecken des Unbekannten. Der definierte und beschriebene Feind ist leichter zu packen als ein vage dräuendes Schicksal.