Mittwoch, 30. Januar 2008

Titelei

Ein Krankenhaus ist ein sehr eigenes Soziotop, das merkt man schon an der sonderbaren Nomenklatur. Eine ärztliche Person ist für viele Patienten und Eltern immer noch „Herr Doktor“ oder „Frau Doktor“, unabhängig von ihrem akademischen Grad. Dabei gilt man doch in nichtklinikalem Umfeld als ignorant, wenn man Leute mit falschem Titel anredet.
An einer Uni-Klinik findet sich unter dem Personal auch mancher Lehrstuhlinhaber und manche Honorar-Professorin. Einen Professor kann man aber nun wirklich nicht mit „Herr Doktor“ anreden, das wäre in Uni-Kreisen regelrecht unhöflich. Ich behelfe mich damit, dass ich grundsätzlich nur die Nachnamen und nie Titel nenne – und habe manchmal das Gefühl, die Distanz damit eher zu vergrößern als abzubauen.
Noch schwieriger ist es mit den Schwestern. Ich finde, jeder erwachsene Mensch hat ein Recht darauf, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden, zumal wenn er hoch qualifiziert und in verantwortlicher Position tätig ist. Aber von den Krankenschwestern kennt niemand die Nachnamen, schon gar nicht die Ärzte. Also „Schwester Gabi“ und „Sie“. Vorsintflutlich. Ist das Personal altersmäßig homogen, muss man noch damit rechnen, dass es auf einer großen Station drei mal Schwester Gabi und drei mal Schwester Monika gibt. Na gut. Was aber macht man mit den Schwesternschülerinnen? Redet man sie mit „Schwester“ an, verwehren sie dies, weil es eben auch eine Art Dienstgrad ist. Aber wer sagt schon „Schwesternschülerin Susanne“? Nachnamen haben die Schwesternschülerinnen natürlich auch nicht.
Am schlimmsten ist es mit den Pflegern. Nehmen wir einmal an, es gibt auf der Station einen Pfleger Klaus. Wie nenne ich ihn? „Pfleger Klaus“? Der erste Teil taugt leider gar nicht zur Anrede. „Herr Klaus“? Ziemlich kindisch. „Bruder Klaus“? Das weist aufs falsche Genre. „Schwester Klaus“? Einige Eltern machen das wirklich. „Herr Pfleger“? Die Notlösung. Tatsächlich redet man den Pfleger überhaupt nicht an. Der Pfleger ist in diesem Sinne eine Unperson.
Die Schwestern sind übrigens schlauer. Wenn sie von den Kindern sprechen, reden sie nicht von „Greta“, „Anna“ oder „Lena“, weil sie die Besatzung damit überhaupt nicht auseinanderhalten könnten, sondern von „Schmali“, „Schulzi“ und „Mülli“. Das funktioniert wenigstens und ist einigermaßen zielgruppengerecht.

Greta ist zuhause und quietschfidel, freut sich am Leben und an ihren Schwestern. Vom MRT gibt’s noch keine Ergebnisse.

Sonntag, 27. Januar 2008

Die dritte Chemo

Der Befund der Szintigraphie (MIBG) war zwiespältig. Einerseits gibt es einen allgemeinen Rückgang des Neuroblastom-Befalls, anderseits existiert möglicherweise ein neuer Herd im Gesichtsschädel. Die optischen Indizien dafür können aber auch auf Verfahrensmängel (Kontamination) zurückzuführen sein. Genauere Informationen wird die nächste Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) am kommenden Dienstag liefern.
Greta hat am späten Dienstag-Abend einen zweiflügligen Katheter eingesetzt bekommen, der für den neuen, noch umfangreicheren Medikamente-Mix des dritten Chemoblocks unerlässlich ist. Niemand kann erklären, warum man ihr überhaupt zu Beginn der Behandlung einen einschenkligen Katheter verpasst hat. Unter anderem gibt es jetzt Cisplatin, das für seine Nebenwirkungen berüchtigt ist. Bisher war davon aber nichts zu merken, und am heutigen Sonntag hat sie die dritte Chemo auch schon überstanden und kann vielleicht nachhause.
Diese Medikamente haben gegenüber dem vergangenen Mix doch eine ganz leicht sedierende Wirkung auf Greta. War sie zuvor regelrecht aufgeputscht, ist sie jetzt „normal“ und im Krankenhaus recht umgänglich. Das erleichtert die Betreuung erheblich.
Ich habe eine neue Selbsterfahrung gemacht: Einfach-nur-dasitzen. Dazu kann es kommen, wenn man im Krankenhaus ein Kind besucht, die Lektüre vergessen hat, das Kind unerwartet schläft und niemand sonst im Zimmer ist (es kommt also extrem selten vor). Der Erholungsgrad dieser Übung ist ein beträchtlicher, und die Gedanken dabei sind nicht die schlechtesten.
Die Lage zuhause war unterdessen stabil, weil die Schwiegereltern spontan eine Woche zu Besuch waren. Das bedeutet üblicherweise, dass die Großen abends gut zu essen bekommen, dass Steffi am Samstag reiten gehen kann und dass die Wohnung erhebliche bauliche Verbesserungen erfährt. Leider wollen die Schwiegereltern nicht gänzlich nach Leipzig übersiedeln und fahren heute wieder nach Kiel.

Vorstellung des neuen Outfits


Sonntag, 20. Januar 2008

Warmer Regen

Greta ist wieder zuhause. Die Szintigraphie ist ordnungsgemäß verlaufen, Ergebnisse stehen noch aus. Das Kind war den größten Teil der Woche wieder in der Klinik, weil es einen Infekt hatte. Die Bazillen gehen herum in diesen Wochen. Der Vater hat sich durch die Arbeitswoche geschleppt und lag am Samstag danieder. Zum Glück ist Annabell zu Besuch.
Greta durfte ihre zeitweilige Entlassung bei mildem Wetter mit einem Waldspaziergang und Spielplatzbesuch begehen. Das hat ihr so gut gefallen, dass sie die dunkelheitsbedingte Heimkehr mit einem Wutanfall quittiert hat, der alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt hat. Eine Stunde lang hat sie auf ihre Mutter eingeschlagen, die Inhalte der Kinderzimmerschränke ausgeräumt und immer wieder gebrüllt: Ich will raus, ich will raus! Woraus wir schließen dürfen, dass die Freiheit immer noch das köstlichste Gut des Menschen ist.
In Armut nützt einem die Freiheit allerdings auch nicht viel. Die Krankenkasse hat die weitgehende Übernahme von Haushaltshilfe und Kinderbetreuung zugesagt. Ein Lob auf den Sozialstaat.

Sonntag, 13. Januar 2008

Ruhiges Wochenende

Greta ist immer noch zuhause und guter Dinge. Gestern gabs zwar heftiges und anhaltendes Nasenbluten, aber die Ärzte haben sie dann doch nicht in der Klinik behalten. Die Blutwerte sind gerade noch akzeptabel für den Freigang. Steffi schafft es inzwischen auch, Greta die nötige Spritze zuhause zu verabreichen.
Selbst ein Infekt ist bisher ausgeblieben, obwohl derzeit viele Bazillen herumgehen und ich selbst leicht angegrippt war. Und die großen Schwestern, die gerade ein Abenteuer-Camp in Klein-Indien hinter sich haben (das ist bei uns schräg gegenüber), sind bestimmt auch nicht sehr steril.
Ansonsten hat Greta in den letzten Tagen viel Zeit mit ihren Schwestern verbracht. Das ist deshalb erwähnenswert, weil die Großen bis in die jüngste Vergangenheit das Meiste unter sich ausgemacht und ihre kleine Schwester eher als Störenfried empfunden haben. Dies ändert sich gerade, weil Greta spürbar gereift ist. Man merkt das vor allem am Sprechen, aber eben auch daran, dass sie nun mit ihren Schwestern halbwegs strukturiert spielen kann. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Krebs im Moment geschwächt ist und dass Körper und Geist dies gleichermaßen dazu nutzen, den Entwicklungsschub zu tun, der im zweiten Halbjahr 2007 ausgeblieben ist. Na gut, die rote Stempeltinte, die sich vorhin an Gretas Händen und bald darauf in einigen Zonen der Wohnung fand, gehörte eher wieder in die Schublade „Kleinkind“.
Wenn das so weiter geht, können wir die Kleine vielleicht bis zum 18.01. zuhause behalten, was für alle Beteiligten eine große Erleichterung wäre. Dann gibt es ein neues Szintigramm, das Auskunft über den Erfolg der ersten Therapie-Etappe geben wird. Dem müsste sich direkt der nächste, der dritte Chemoblock anschließen.

Mittwoch, 9. Januar 2008

Heimspiel

Greta ist wieder zuhause, die Kinder feiern ihre Dreisamkeit. Ein gemeinsames Matratzenlager wird gebaut, drei Puppen sind zusätzlich zu versorgen, also sechs Betten. Alle drei Puppen haben Krebs und bedürfen besonderer Fürsorge. Natürlich endet der Abend trotzdem in Streit und Schreierei.
Greta strotzt vor Energie und Unternehmungslust. Gestern ist sie beim Tanzen vom Krankenhausbett gefallen und hat bei einer kleinen Meinungsverschiedenheit ihre Mutter so gebissen, dass die Ärzte es für angebracht hielten, Steffi mit einem dicken antiseptischen Wundpflaster zu versehen.
Ein Hörtest mit Greta verlief zufriedenstellend. Innenohrschäden gehören zu den größten Risiken der gerade verabreichten Medikamente. Dass Greta auffallend oft die Anweisungen und Ratschläge von Schwestern und Eltern ignoriert, hat aber eher hausgemachte als physiologische Gründe.
Steffi wird morgen erstmalig versuchen, die nötige tägliche Injektion eines leukozytenfördernden Mittels zu verabreichen. Damit könnten wir einen Gang in die Klinik sparen.
Wir müssen jetzt endgültig in die Öffentlichkeit gehen. Steffi war am Nachmittag erstmalig mit glatzköpfigem und mundschutzbewehrtem Kind in Geschäften und bei Nachbarn. Aber es geht. Es ist gut, wenn alle es wissen und ihre Berührungsängste rasch verlieren. Krebs ist nicht ansteckend.

Sonntag, 6. Januar 2008

Entspannter Ferienausklang

Der zweite Chemoblock nähert sich dem Ende, und es gibt keine besonderen Vorkommnisse. Das ist zu diesem Zeitpunkt die bestmögliche Meldung, denn Spektakuläres kann nur schlecht sein. Greta ist stabil, fröhlich, manchmal etwas zu lebhaft und trägt jetzt eine gepflegte Platte. Clara war ziemlich irritiert nach ihrem gestrigen Besuch und meinte hinterher: „Gretas Kopf ist so ... lose“.
Greta hatte in der Klinik nach Clara gehauen, als diese auf Papas Schoß saß, Stella war gleich ganz zuhause geblieben. Wenn wir ein Problem nicht haben, dann dieses, dass wir die Geschwister dauernd zusammenbringen müssten.
Greta hat Memory für sich entdeckt. Die ersten beiden Partien gingen auch nach Abzug einiger Unregelmäßigkeiten klar an sie. Nun darf man zwar erfreut darüber sein, dass sie anscheinend keine Kopfmetastasen hat, trotzdem ist es kein Vergnügen, in einem Intelligenzspiel gegen eine Dreijährige zu verlieren.
Zu Hause ist gerade Café International angesagt – und Schach. Die Partien zwischen Stella und Clara enden entweder mit einem Überraschungsmatt (der König stand die ganze Zeit im Schach, und keiner hat’s gemerkt), oder zwei gänzlich vereinsamte Könige rufen sich erschöpft „Remis“ zu. Es ist wüstes Räuberschach. Das einzige, was zählt, ist die Anzahl der geschlagenen Figuren. Hier wird der Vater noch zwei bis drei Jahre gewinnen können. Und danach wird Skat gelernt.
Wenn alles gut geht, darf Greta gegen Ende nächster Woche für ein paar Tage nachhause. Dort ist es dann aufgeräumt und blitzsauber, weil Anja, unsere neue „Perle“, seit dieser Woche neue Maßstäbe setzt.

Freitag, 4. Januar 2008

Ein guter Standort

Wenn man an einem Neuroblastom erkrankt, ist man in Deutschland zur Zeit besonders gut aufgehoben, besser zumindest als in den USA oder in Ländern, die wissenschaftspolitisch von diesen dominiert werden. Warum das so ist, hat uns gerade ein Experte erklärt.
Das Neuroblastom wurzelt in einer Entartung von Stammzellen. Stammzellen sind jene Zellen, die noch nicht ausdifferenziert sind und aus denen folglich noch alle möglichen Organe entstehen - oder gezüchtet werden können.
Stammzellen sind für die medizinische Forschung hochinteressant, weil man sich erhofft, durch ihren gezielten Einsatz viele Krankheiten heilen zu können. Dazu muss man an diese Zellen aber erst einmal herankommen, und die mit Abstand besten sind immer noch in Embryonen zu finden. Doch damit gerät man ganz schnell auf moralisches Glatteis: Darf man ungeborene Föten zu Forschungszwecken verwenden oder solche gar eigens heranzüchten? Am besten noch durch Klonen? Darauf haben die westlichen Forschungskulturen unterschiedliche Antworten gefunden: In Deutschland ist die Züchtung von Stammzellen verboten, die ganze Forschungsrichtung ist politisch nicht sonderlich beliebt. In den USA ist das anders. Dort ist in dieser Hinsicht viel mehr erlaubt, und es herrscht auf dem Feld der Stammzellenforschung großer Enthusiasmus, sehr viel Geld wird investiert. Hier passt die Existenz des Neuroblastoms nicht ins Bild, weil es ja eine bösartige Entartung von Stammzellen ist, diese also generell in Misskredit bringt und vielleicht sogar finstere Seiten eines allzu leichtfertigen Umgangs mit diesen erahnen lässt. Deshalb ist Neuroblastomforschung in den USA gerade nicht angesagt.
In Deutschland dagegen ist es genau umgekehrt. Vor dem Hintergrund einer hitzigen ethischen Diskussion um die Stammzellenforschung ist es gerade „in“ und politisch besonders korrekt, sich in der Neuroblastomforschung zu profilieren, deshalb fließen hier auch viele Fördermittel.
Daher ist es immerhin ein Trost, mit dieser Krankheit in Deutschland zu leben, noch dazu 15 Fahrradminuten weg von einer Spezialklinik, deren Gebäude im September 2007 eröffnet worden ist.