Sonntag, 30. November 2008

November geschafft

Ihr habt sicher gehört, dass Sachsen deutscher Pisa-Sieger geworden ist. Wenn ich an meine Kinder denke, kann ich mich über diese Nachricht nicht wirklich freuen. Hoffentlich bringen wir alle drei Töchter durchs Abitur. Meinem Schwiegervater ist dieses Kunststück auch gelungen. Stella schwächelt in Mathe. Das kann nicht an den Genen der Kieler Sparkassenfamilie liegen. Dafür hat Clara, bisher eher unbelesen, gestern nach dem größten Buch im Haus gefragt. Ich fing schon freudig an, ihr die Atlanten, Lexika und Kunstbände unserer Bibliothek zu erläutern, das war aber ein Missverständnis. Sie nahm den erstbesten Folianten, um ihren Weihnachtsstern darin zu pressen.
Clara war auch heute beim Kinder-Workshop Sternebasteln, ich ging derweil mit Stella und Greta in den Zoo. Es war früher Nachmittag, und wir wollten vor allem Pommes essen, denn die sind im Zoo ziemlich gut. Doch als wir ankamen, waren die Kartoffelspäne aus und schlimmer noch: Die letzten drei Portionen standen am Nachbartisch vor zwei Herren, die aussahen, als brauchten sie gerade ein Katerfrühstück. Die aßen dann aber gar nichts von den Pommes, sondern verfütterten sie original an die Spatzen. Wir schauten zu und knabberten mitgebrachte Kekse, tragisch.
Unser Geschirrspüler ist kaputt. Früher gehörte Spülen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich habe mich sogar mal zu der Behauptung verstiegen, dass ein Geschirrspüler gar nicht viel Zeit spare, weil man ja ein- und ausräumen müsse. Vergiss es! Nach einer Woche Handspülung für fünf Personen freue ich mich sehr auf das neue Gerät.
Auf Nachfrage haben uns die behandelnden Ärzte für dieses Jahr einen echten Weihnachtsbaum zugestanden, also so ein nadelndes, harzklebriges Ding, das meiner Meinung nach mit einem kunststoffenen Baumbausatz gar nicht konkurrieren kann. Ich bin argumentativ klar in der Verliererposition.
Das Fußball-Wochenende war finsterst. Düsseldorf und Köln verloren, beide Leipziger „Spitzenclubs“ mit Heimniederlagen. Nur Cottbus macht Freude, als Wahl-Ossi muss man diese Truppe einfach mit Wohlwollen betrachten. Ach so, Gretas Befinden: normaler Kinderalltag, keine besonderen Vorkommnisse, gut so!

Sonntag, 23. November 2008

Ein Jahr durchgehalten

Genau ein Jahr ist die Krebsdiagnose jetzt alt, und wir fragen uns, ob wir weiter sind. Natürlich sind wir weiter. Der Greta von heute geht es unendlich viel besser als vor einem Jahr. Sie hat sich sogar fast normal entwickelt. Die Familie (Klein- und Großfamilie) hat gezeigt, dass sie zusammenhält, dass sie auch unter massivem Druck langfristig gut funktioniert, weil wir alle ziemlich elastisch sind. Viele alte Freunde haben große Treue bewiesen, neue sind hinzugekommen. Wir erfahren nach wie vor ein hohes Maß an Solidarität, auch vom Staat und seinen Einrichtungen. Unsere intensiven Erfahrungen mit der deutschen Medizin sind weit überwiegend positiv, trotzdem ist die ganze Greta-Geschichte für uns fast kostenneutral. Ein gutes System. Ich bin wieder ein bisschen linker geworden im vergangenen Jahr, wenn schon nicht religiöser.
Die nächsten Diagnose-Schritte – MIBG-Szintigraphie und MRT – sind beide in den Januar verschoben worden, offenbar ist die Dringlichkeit gerade nicht sehr hoch. Die Aussicht ist gefährlich verlockend, dass nun nichts besonderes mehr passiert und Greta einfach weiterhin Tag für Tag gesünder und fitter wird.
Sollte der Tumorrest im Bauch immer noch aktive Teile enthalten, würde man ihn operativ entfernen. Das ist eine gute Nachricht, denn dass dies überhaupt möglich ist, hatten wir zwischendurch schon bezweifelt. Die Ärzte sind nach wie vor sehr wortkarg, es gibt keine tief greifenden Milestone-Gespräche. Onkologen müssen so etwas ja hassen. Wir haben uns daran gewöhnt.
Morgen geht es mit der bislang ganz unproblematischen Retin-Säure weiter. Greta bekommt ansonsten ein Antibiotikum, das Wunder wirkt. Die ganze Familie ist mehr oder weniger erkältet, nur Greta nicht.
Papa muss noch eine Woche viel herumreisen, dann ist es geschafft für dieses Jahr. Letzten Freitag habe ich nur eine Stunde in Frankfurt abgehangen und kein weiteres Krebsbuch entdeckt. Die schweizischen Bummelzüge aus den Sechzigern tun ihren Job in Thüringen ganz gut, selbst die Heizung funktioniert meistens. Wahrscheinlich fühlen sie sich zwischen den Hügeln zuhause. Sind die Schweizer eigentlich unser Brudervolk? So wie die Österreicher? Man weiß das nicht so genau.

Jubiläumsbilder

Mama ist die Größte

Greta und Anna mit ihren Kindern

Vier Basen, eine mit Zahnlücke



Mittwoch, 19. November 2008

Tal der Ahnungslosen

Sachsen hat irgendeinen Feiertag, der jedenfalls gut tut. Wir hängen komplett herum, bügeln, joggen, füttern die Gäule, überlassen die Kinder ihrem dreisamen Vergnügen und den Computern, freuen uns an Greta und denken nicht groß darüber nach, wie es weitergeht. Ich habe gerade Berichte über diese Amerikanerin gelesen, die sich angeblich seit ihrem 14. Lebensjahr an jedes Detail aus ihrem Leben erinnern kann. Toll, denkt man sofort: Literatur in zehn Sprachen lesen, mit echter Allgemeinbildung glänzen, endlich Produktionslisten und Budgets auswendig kennen. Aber Pustekuchen, der Dame scheint ihre erweiterte Hirnfunktion im Leben nicht viel genützt zu haben.
Wenn man es sich recht überlegt, ist die Vorstellung vom absoluten Gedächtnis ziemlich grauenvoll. Ich bin jetzt schon froh darüber, dass mir dereinst große Teile meiner ersten zwei Leipzig-Jahre aus der Erinnerung gerutscht sein werden. Zum Glück kann ich so was gut. Auf einer Party habe ich mal eine Frau getroffen, die wortreich erklärte, rechtfertigte, diskutierte, warum sie zehn Jahre zuvor mit mir Schluss gemacht hatte. Ich hörte mir das an, schaute betroffen drein und versuchte mich an ihren Namen zu erinnern. Vergessenkönnen ist ein großer Segen.
Stella hat eine neue Frisur. Mama hat ihr die etwas amorphen Strähnen abgeschnitten und ihr einen Topfschnitt verpasst, den man vor dreißig Jahren „französisch“ genannt hätte. Steht ihr gut, betont ihr hübsches Gesicht. Bald gibt es Fotos dazu.

Sonntag, 16. November 2008

Bauchbestrahlung vorbei

Morgen bekommt Greta ihre letzte Bauchbestrahlung. Dann geht es mit Retinsäure weiter, danach wird wieder diagnostiziert, wahrscheinlich durch MRT und nicht durch MIBG-Szintigraphie, die dieses Jahr nicht mehr zum Einsatz kommen soll. Im Moment scheinen die Ärzte es nicht so eilig zu haben mit der weiteren Therapie. Man möchte sich freuen darüber, denn die fortschreitende Normalisierung und Stabilisierung bei Greta erweckt den Eindruck, dass nun bald alles gut ist und die Ärzte gar nicht mehr viel zu tun brauchen. Das könnte ein Trugschluss sein. Ein langmonatiger Weggefährte von Greta ist gerade gestorben. Bei ihm ging es zum Schluss so schnell, dass er nicht einmal mehr nachhause gekommen ist.
Schon wieder sind vier Wochen Behandlung vorbei. Die zweite Hälfte davon war für alle Beteiligten vergleichsweise entspannt, da Greta nur ambulant ins Krankenhaus musste. Das ist schon deshalb ein günstiger Umstand, weil Papa im November viel unterwegs ist. Mit sieben auswärtigen Terminen ist dieser Monat Spitzenreiter in 2008. Aber die Weihnachtsferien kommen ganz bestimmt.
Den Sonntag haben wir erwartungsgemäß nur zuhause herumgehangen. Steffi ist zu den Pferden gegangen, Stella ist überhaupt nicht aus dem Schlafanzug gekommen und hat um sieben schon wieder geschlafen. Greta hat mit mir Schach gespielt.
Clara sieht ziemlich verrucht aus, weil ihr nun der linke Schneidezahn fehlt. Sie kann stundenlang Geschichten erzählen. Die Kinder sind guter Dinge, spielen phasenweise auch zu dritt gut zusammen. Das Gefälle zwischen den Großen und Greta schrumpft gerade wieder. Greta ist schwerer geworden, nicht mehr ganz so leicht am ausgestreckten Arm in die Luft zu wirbeln.
Bittere 0:3-Heimniederlage von Chemie gegen den FC Oberneuland aus Bremen, immerhin 750 Mitglieder, vorletzter Tabellenplatz.

Sonntag, 9. November 2008

Leibesübungen in der Provinz

Wir waren heute nach vielen Monaten mal wieder im Zoo, was richtig schön war. Das Infektionsrisiko ist im Moment gering, weil Gretas Blutbild fast normal ist. Und da sie ohnehin immer zu den Pferden geht und dort im Dreck wühlt, kann sie auch den Zoo besuchen. Greta liebt den Zoo. Die Großen wollen da fast nur konsumieren, was im November nicht ganz so einfach ist, weil die Eiswägen und Würstchenbuden dicht haben. Die Eisenbahn fährt auch nicht. Von den Tieren sind etliche im Winterschlaf oder im beheizten Stall, und von den südländischen Vertretern nehmen viele jetzt erst ihren Jahresurlaub.
Die Großen haben sich ein bisschen gelangweilt, Greta fand es prima. Es ist aber noch ein weiter Weg, bis sie eine normale Vierjährige wird. Von der Größe, vom Gewicht, von der Sprache her ist sie es noch nicht, und sie hat gezeigt, dass sie doch noch arg wackelig auf den Beinen ist und wenig belastbar. Wieder zuhause, wurde sie schnell übellaunig und war um fünf Uhr fest eingeschlafen.
Stella hat ein neues Fahrrad. Wenn der Herbst mild bleibt, kann sie es noch eine Weile nutzen, was ihr gut täte. Clara ist beweglicher, auch auf dem Velo. Reiten kann sie ein Pony schon fast alleine. Ich war am Samstag zum ersten Mal mit in Liebertwolkwitz. Viel mehr als Pferde putzen und bewegen kann man dort nicht.
Der ranghöchste städtische Fußballclub Sachsen (Chemie) Leipzig hat bei Türkiyemspor Berlin verloren und steht auf einem Abstiegsplatz. Eine Liga drunter jagt die Lokomotive den Zipsendorfer Fußballclub Meuselwitz e.V., der 305 Mitglieder hat und in der Oberliga bisher nur 3 Tore in zehn Spielen kassierte. Gut möglich, dass wir demnächst im Zentralstadion nebenan wieder packende Lokalderbys zwischen Chemie und Lok sehen – in der 5. Liga vor 30.000 Zuschauern.

Mittwoch, 5. November 2008

Bahnlektüre

Die Rückfahrt von einem Arbeitstermin in Stuttgart dauerte drei Stunden länger als geplant, aber in der Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung fiel mir Zeitvertreib in die Hände: Michael Schophaus, Im Himmel warten Bäume auf dich. Ein Journalist beschreibt Krankheit und Tod seines Sohnes, Neuroblastom Stadium vier.
Zunächst war ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich lesen soll, denn die Dinge dringen viel tiefer in meine empfindsame Seele, wenn sie schriftlich vor mir liegen. Schließlich überwog die Neugierde, vor allem auf die Schlussphase. Erst war es anstrengend, dann ging es besser.
Da gibt es wirklich ein paar bizarre Parallelen zu unserem Kosmos. Jakob liebt Pferde, seine Brüder heißen Jonas und Simon, und er hat eine „Oma Düsseldorf“. Zum Glück gibt es auch Unterschiede. Jakobs Bauchtumor war bei Entdeckung doppelt so groß wie der von Greta (trotzdem hat er noch 20 Monate gelebt). Viele Pannen und menschliche Unverträglichkeiten mit Schwestern und Ärztinnen, von denen Schophaus berichtet, sind uns bisher unbekannt geblieben. Und es scheint in den vergangenen 10 Jahren doch signifikanten medizinischen Fortschritt gegeben zu haben.
Der wichtigste Unterschied im Moment: Greta lebt und ist quietschvergnügt, weil sie nämlich gestern und heute doch nach der Bestrahlung nachhause durfte.

Sonntag, 2. November 2008

Zielgerade?

KW 44 war die ruhigste und erholsamste Woche seit Monaten. Ich bin dreimal abends nachhause gekommen und habe nichts anderes getan als Abendbrotessen, Lesen und Schlafen. Steffi hat eine Freundin getroffen und ist sogar zu einer Lesung gegangen. Donnerstag Mittag war Greta dann wieder zuhause.
Am Samstag sind Stella und Clara von Thomas nach Leipzig zurückgebracht worden. Die Mädels sind sehr gut drauf und gar nicht einmal übermüdet. Vom Kölner Dom berichten sie ebenso begeistert wie von der Wuppertaler Schwebebahn. Stella hat ihr Buchmanuskript entscheidend vorangebracht. Anscheinend haben sich beide sowohl in Köln als auch in Düsseldorf sehr gut benommen, zumindest sagt man uns das so. Ich muss mich erst noch an den Gedanken gewöhnen, gut erzogene Kinder zu haben.
Nun sind wir also wieder vollständig – und mehr als das, denn Susanne und Anna aus Bamberg sind auch da. Der Großeinkauf am Samstagmorgen gehört inzwischen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Schade, zwei Weinflaschen dazu, und ich hätte gestern erneut meinen persönlichen Aldi-Highscore getoppt. Neulich bin ich an der Kasse gefragt worden, ob ich Umsatzsteuer ausweise. Ich stehe jetzt in Konkurrenz zu den umliegenden Gemüsehändlern, die beim Aldi zentnerweise die billigen Strauchtomaten zum Weiterverkauf horten.
Greta verbraucht davon am wenigsten, sieht aber gesund und wohlgenährt aus. Sie ist so aktiv und quirlig, dass normalerweise jeder sagen würde, die muss dringend in den Kindergarten. Nur Treppensteigen mag sie noch nicht, aber das hat sie mit Steffi gemein, die sich einfach nicht an unseren schönen Zweitkühlschrank im Keller gewöhnen mag, wo vornehmlich die Getränke lagern.
Morgen früh geht es mit der Bestrahlung weiter, und es wird sicher zunehmend schwer, Greta im Krankenhaus über den Tag zu bringen. Steffi will versuchen, doch wenigstens nachmittäglichen Heimgang zu erwirken. Unser Marathon ist noch nicht vorbei, aber in New York geht es jetzt in die Zielgerade.